VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Beschluss vom 28.05.2020 - 9 L 134/20 (Asylmagazin 8/2020, S. 282 f.) - asyl.net: M28483
https://www.asyl.net/rsdb/M28483
Leitsatz:

"Duldung light" nicht zulässig, wenn neben selbstverschuldeten Abschiebungshindernissen noch andere Gründe für die Unmöglichkeit der Abschiebung vorliegen:

1. Die Erteilung einer "Duldung für Personen mit ungeklärter Identität" gemäß § 60b AufenthG erfordert eine Kausalität zwischen der Unmöglichkeit der Abschiebung und einer von der betroffenen Person zu vertretenen ungeklärten Identität bzw. der Nichterfüllung von Mitwirkungspflichten bei der Passbeschaffung.

2. Liegen weitere eigenständige rechtliche oder tatsächliche Abschiebungshindernisse vor, die die betroffene Person nicht zu vertreten hat, so fehlt es an der erforderlichen Kausalität (entgegen Bundesministerium des Innern, Weisung vom 14.04.2020 - Az. unbekannt - asyl.net: M28354).

3. Die zu vertretene Verhinderung der Abschiebung muss zudem gegenwärtig sein. Eine in der Vergangenheit liegende Verletzung der Mitwirkungspflichten oder Täuschung rechtfertigt nicht die Erteilung einer Duldung für Personen mit ungeklärter Identität.

4. Ist die betroffene Person nicht gemäß § 60 Abs. 3 Satz 2 AufenthG über ihre Mitwirkungspflichten belehrt worden, so kann ihr eine etwaige Pflichtverletzung nicht entgegengehalten werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Duldung, Kausalität, Mitwirkungspflicht, Identitätsfeststellung, Duldung für Personen mit ungeklärter Identität, Identitätstäuschung, Identitätsklärung, Abschiebungshindernis, Abschiebung, Passbeschaffung, Pass, vollziehbar ausreisepflichtig,
Normen: AufenthG § 60a, AufenthG § 60b Abs. 3 S. 2, AufenthG § 60b Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

9 Hat die Antragstellerin damit einen Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG glaubhaft gemacht, scheitert die Erteilung auch nicht daran, dass ihr lediglich eine Duldung im Sinne von § 60b AufenthG zu erteilen wäre. Nach § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG wird einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer die Duldung im Sinne des § 60a als "Duldung für Personen mit ungeklärter Identität" erteilt, wenn die Abschiebung aus von ihm selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden kann, weil er das Abschiebungshindernis durch eigene Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch eigene falsche Angaben selbst herbeiführt oder er zumutbare Handlungen zur Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht nach Absatz 2 Satz 1 und Absatz 3 Satz 1 nicht vornimmt. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut erfordert eine sogenannte "Duldung light" nicht bloß, dass der Ausländer über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch falsche Angaben getäuscht hat oder er ihm zumutbare Handlungen bei der Passbeschaffung nicht vorgenommen hat. Erforderlich ist vielmehr, dass die Abschiebung aus den vom Ausländer zu vertretenden, in § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG genannten Gründen nicht vollzogen werden kann. An der damit gebotenen Kausalität zwischen der Unmöglichkeit der Abschiebung und der vom Ausländer zu vertretenen ungeklärten Identität bzw. Nichterfüllung von Mitwirkungspflichten bei der Passbeschaffung (vgl. zur Kausalität: Wittmann/Röder, ZAR 2019, 362, 368; Thym, ZAR 2019, 353, 355; Dollinger, ZRP 2019, 130, 131; vgl. zu § 60a Abs. 6 Nr. 2 AufenthG: OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. November 2016 – OVG 12 S 61.16 – juris Rn. 4) fehlt es vorliegend aber. Denn vorliegend tritt neben den Umstand der ungeklärten Identität bzw. des Nichtvorhandenseins eines Passes noch ein weiteres selbständiges Abschiebungshindernis nämlich die Einstellung des internationalen Flugverkehrs, das derzeit eine Abschiebung hindert (vgl. hierzu: Wittmann/Röder, ZAR 2019, 362, 364). Insoweit könnte selbst dann, wenn die Identität der Antragstellerin geklärt sowie die Antragstellerin sämtliche Mitwirkungshandlungen bei der Beschaffung eines Passes erfüllt hätte und ein die Rückführung ermöglichendes Passdokument vorliegen würde, eine Abschiebung derzeit und auf absehbare Zeit nicht durchgeführt werden. Dabei kommt es auch nicht darauf an, dass eine etwaige Verletzung der Mitwirkungspflicht in der Vergangenheit zu einer Verzögerung oder Verhinderung der Abschiebung geführt hat. Denn anders als etwa § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG stellt § 60b Abs. 1 AufenthG nicht darauf ab, dass der Ausländer aufenthaltsbeendende Maßnahmen verzögert oder behindert hat, sondern darauf dass gegenwärtig die Abschiebung aus vom Ausländer zu vertretenen Gründen nicht vollzogen werden kann (Hervorhebung durch das Gericht). Insoweit können dem Antragsteller nur solche Gründe entgegen gehalten werden, die derzeit einen Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen verhindern (vgl. zu § 11 BeschVerfV a.F. bzw. nunmehr § 60a Abs. 6 Nr. 2 AufenthG: VGH München, Beschl. vom 28. April 2011 – 19 ZB 11.875 – juris Rn. 5). [...]

17 Gemäß § 60b Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist der Ausländer auf diese Pflichten hinzuweisen. Mit Blick hierauf kann der Antragsgegner der Antragstellerin eine Verletzung der Mitwirkungspflichten nicht entgegen halten. Auch wenn nicht ausdrücklich geregelt ist, welche Rechtsfolgen eine nach § 60b Abs. 3 Satz 2 AufenthG gebotene Belehrung nach sich zieht, ist davon auszugehen, dass dem Betroffenen erst nach einem hinreichend konkreten Hinweis die Verletzung der Mitwirkungspflichten vorgehalten werden kann (vgl. Wittmann/Röder, ZAR 2019, 362, 367; BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2010 – 1 V 18.09 – NVwZ-RR 2011, 210 Rn. 17). Dies ergibt sich zum einen daraus, dass der Gesetzgeber ausdrücklich eine Hinweispflicht der Ausländerbehörde geregelt hat und zum anderen daraus, dass eine "Duldung für Personen mit ungeklärter Identität" nur dann zu erteilen ist, wenn die Gründe, aus denen die Abschiebung nicht vollzogen werden kann, von dem Ausländer zu vertreten sind (§ 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Die erste Fallgruppe § 60 b Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfordert insoweit ein aktives und vorsätzliches Handeln des Ausländers, indem er über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch falsche Angaben getäuscht hat. Demgegenüber genügt für die zweite Fallgruppe, dass er zumutbare Handlungen zur Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht nach Absatz 2 Satz 1 und Absatz 3 Satz 1 nicht vornimmt, lediglich eine mangelnde Mitwirkung bei der Passbeschaffung. Damit diese ein gewisses Gewicht erhält und es gerechtfertigt erscheint, sie aktiven und vorsätzlichen – vom Ausländer stets zu vertretenen – Täuschungshandlungen gleichzusetzen, ist es jedenfalls geboten, dass der Ausländer über die ihm abverlangten Handlungen bei der Passbeschaffung hinreichend belehrt wird (vgl. zu § 104a AufenthG, BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 2010, a.a.O.). [...]