VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Urteil vom 26.05.2020 - 4 K 2517/17.A - asyl.net: M28512
https://www.asyl.net/rsdb/M28512
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für junge Frau aus Venezuela

1. In Venezuela herscht gegenwärtig eine prekäre humanitäre Lage, die durch eine schwere Wirtschaftskrise, einem Mangel an Nahrungsmitteln und einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems geprägt ist.

2. Es ist auch vor dem Hintergrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie nicht absehbar, dass die Lage sich zeitnah entspannen wird. 

3. Ein Abschiebungsverbot ist derzeit dennoch nur dann anzunehmen, wenn neben den allgemeinen humanitären Umständen auch individuelle Erschwernisse vorliegen und von einer besonderen Schutzbedürftigkeit auszugehen ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Corona-Virus, extreme Gefahrenlage, Abschiebungsverbot, humanitäre Gründe, Venezuela, Existenzgrundlage, besonders schutzbedürftig, Mangelernährung, medizinische Versorgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die in Venezuela insgesamt zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen der Klägerin weisen vorliegend keine derart hohe Intensität auf, [so] dass von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist, die der Klägerin im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen würde. Der Klägerin droht in Venezuela keine Gefahr, welche über die Gefahr hinausgeht, derer die Bevölkerung allgemein ausgesetzt ist und als gravierende Beeinträchtigung die Schwelle der allgemeinen Gefährdung übersteigt.

Zwar stellen sich die Lebensverhältnisse in Venezuela mit Blick auf die aktuelle humanitäre, politische und wirtschaftliche Krise, in der sich das Land befindet, gegenwärtig als äußerst schlecht dar, was das Gericht ausweislich der vorliegenden Erkenntnismittel sowie der allgemein bekannten und in den vielfältigen Medien dargestellten Situation sowie auch der von der Klägerin selbst eingereichten Erkenntnismittel nicht verkennt. [...]

Das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen. Es herrscht zusammengefasst ein akuter Mangel an medizinischer Ausrüstung, medizinischen Geräten und grundlegenden Medikamenten, verschärft durch eine Unterversorgung des medizinischen Sektors mit Wasser und Strom (vgl. Bericht des Österreichischen Roten Kreuzes, ACCORD, Venezuela: Politischer Kontext, Demonstrationen und Gewalt, humanitäre Lage, September 2019, S. 18).

Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich die wirtschaftliche Lage in absehbarer Zeit entspannen wird (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 17, Venezuela, Stand 09/2019, S. 15). Dies dürfte unter der vorherrschenden COVID-19 Pandemie nur noch verstärkt gelten, ohne dass das Ausmaß der Pandemie aufgrund der dynamischen Entwicklung zum gegenwärtigen Zeitpunkt konkret einschätzbar ist.

Eine derart schwierige soziale und wirtschaftliche Lage begründet - auch unter Berücksichtigung zusätzlicher Gefahren durch die COVID-19 Pandemie - jedoch kein allgemeines Abschiebungsverbot, sondern muss von der Klägerin wie auch von allen anderen Einwohnern Venezuelas bewältigt werden. Den humanitären Umständen im Land ist die gesamte Bevölkerung ausgesetzt. Die Klägerin kann keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände geltend machen, die ausreichen, um ein Abschiebeverbot zu begründen. Ein Leben zumindest am Rande des Existenzminimums ist für die gesunde, junge und arbeitsfähige Klägerin zu erwarten. Sie ist gut ausgebildet, könnte aber auch kleineren Tätigkeiten und Nebenjobs nachgehen, die ihrem Studium nicht entsprechen. Dies hat sie bereits vor ihrer Ausreise getan. Weiter hat sie keinerlei Unterhaltsverpflichtungen und kann gegebenenfalls auf die Unterstützung ihrer Familie in Deutschland zählen. Zu den besonders hilfsbedürftigen Personen zählt die Klägerin nicht. Es ist daher auch ohne familiären Rückhalt in Venezuela davon auszugehen, dass eine Rückkehr für die Klägerin zwar mit erheblichen Beeinträchtigungen einhergehen kann - die das Gericht nicht verkennt -, dies jedoch in Anwendung der strengen tatbestandlichen Voraussetzung und der Rechtsprechung nicht ausreicht, um ein Abschiebeverbot zu begründen. Es ist zudem auch nicht erkennbar, dass die Klägerin von jeglicher Nahrungsmittelversorgung von vorneherein ausgeschlossen ist. Zwar zählt sie nicht zu dem von der Regierung bevorzugten Personenkreis. Es ist jedoch auch nicht belegt, dass die Klägerin auf einer Liste tatsächlich als Oppositionelle geführt wird und ihr so die Versorgung mit Nahrungsmitteln in höherem Maß als der übrigen Bevölkerung erschwert wird. Auch der gegenwärtigen COVID-19 Pandemie ist die Klägerin in gleichem Maße ausgesetzt, wie der übrige Teil der Bevölkerung. Die Klägerin ist in diesem Zusammenhang auch keiner Risikogruppe angehörig. [...]