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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 14.05.2020 - C-924/19 PPU, C-925/19 PPU FMS u.a. gg. Ungarn - asyl.net: M28528
https://www.asyl.net/rsdb/m28528
Leitsatz:

Unterbringung Asylsuchender in Transitlager an ungarisch-serbischer Grenze ist Inhaftierung; wirksamer Rechtsbehelf muss gewährleistet sein:

1. Gegen die Änderung des Ziellands in einer vorausgegangenen Rückkehrentscheidung muss ein gerichtlicher Rechtsbehelf gegeben sein. Dies ergibt sich aus der Auslegung von Art. 13 RückfRL im Lichte des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nach Art. 47 GR-Charta. Ein nationales Gericht ist deshalb verpflichtet, sich für eine Klage gegen eine solche Entscheidung für zuständig zu erklären, auch wenn im nationalen Recht kein Rechtsbehelf hierfür vorgesehen ist.

2. Ein Antrag auf internationalen Schutz darf nicht als unzulässig zurückgewiesen werden, weil die betroffene Person durch einen Mitgliedsstaat eingereist ist, in dem sie keiner Verfolgung ausgesetzt ist und in dem ihr kein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15 QRL droht (unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 19.03.2020 - C-564/18 LH gg. Ungarn - Asylmagazin 5/2020, S. 168 ff. - asyl.net: M28243).

3. Wurde in einem solchen Fall ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt und diese Entscheidung gerichtlich rechtskräftig bestätigt und wird danach die Unionswidrigkeit dieser Entscheidung durch den EuGH festgestellt, muss die Asylbehörde den Asylantrag nicht erneut prüfen. Es kann jedoch ein neuer internationaler Schutzantrag gestellt werden, dabei ist eine solche EuGH-Entscheidung als neue Erkenntnis im Sinne des Art. 32 Abs. 2 Bst. d AsylVerfRL zu werten. Stellt die Behörde fest, dass eine entsprechende EuGH-Entscheidung vorliegt oder die Unionswidrigkeit der Entscheidung inzident von einem nationalen Gericht festgestellt wurde, darf der Antrag nicht als unzulässig abgelehnt werden.

4. Der Aufenthalt einer Person in einer eingegrenzten und geschlossenen Transitzone, in der Bewegungen beschränkt sind, die Person überwacht wird und die Zone in keine Richtung aus eigenem Willen rechtmäßig verlassen werden kann, ist als Haft zu klassifizieren (hier: Röszke an der ungarisch-serbischen Grenze).

5. An der Grenze oder in Transitzonen dürfen die Mitgliedsstaaten nach Art. 43 Abs. 1 AsylVerfRL besondere Verfahren für die Bearbeitung von Asylanträgen vorsehen. Der damit verbundene Gewahrsam darf nicht länger als vier Wochen ab Asylantragsstellung andauern. Wird in dieser Zeit keine Entscheidung über den Asylantrag getroffen, muss der Mitgliedstaat die Einreise in sein Hoheitsgebiet gestatten.

6. In Art. 8 Abs. 3 UAbs. 1 AufnRL sind die Haftgründe für Asylantragsstellende abschließend aufgezählt. Die Mitgliedsstaaten sind nicht verpflichtet, eine Höchstdauer der Haft festzusetzen, wenn durch nationales Recht garantiert ist, dass die Haft nur für die Dauer des Vorliegens des Haftgrundes gegeben ist und dahingehende Verwaltungsverfahren mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden. Eine asylantragstellende Person darf nach Art. 8 und 9 AufnRL nicht in Haft genommen werden,

a. allein deshalb, weil sie nicht selbst ihren Lebensunterhalt sichern kann,

b. ohne, dass zuvor eine Entscheidung über die Anordnung der Haft ergangen ist und ihre Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit geprüft wurde,

c. ohne, dass die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung der behördlichen Haftanordnung besteht.

7. Das gleiche ergibt sich für eine Person, gegen die eine Rückkehrentscheidung ergangen ist aus Art. 15 RückfRL. In diesem Fall darf die Haft nicht länger als 18 Monate dauern und aufrechterhalten werden, wenn Abschiebungsvorkehrungen überhaupt nicht mehr oder nicht mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden. Auch hier muss sich ein nationales Gericht für einen von Betroffenen erhobenen Rechtsbehelf für zuständig erklären, auch wenn im nationalen Recht kein Rechtsbehelf hierfür vorgesehen ist. Es ist dann auch ermächtigt, die unverzügliche Freilassung anzuordnen, wenn es der Auffassung ist, dass die Haft unionsrechtswidrig ist.

8. Die freigelassene Person kann nach Art. 26 AufnRL bei dem nach nationalem Recht zuständigen Gericht ihren Anspruch auf eine Geld- oder Sachleistung für eine Unterbringung geltend machen. Auch hier muss ein gerichtlicher Rechtsbehelf für die Überprüfung des Rechts auf Unterbringung gemäß Art. 17 AufnRL gegeben sein, ist dies nicht der Fall, muss sich das nationale Gericht für einen von Betroffenen erhobenen Rechtsbehelf zuständig erklären.

(Leitsätze der Redaktion)

 

Schlagwörter: Ungarn, Serbien, Drittstaatenregelung, Inhaftierung, Rechtsmittel, Transitzone, Unterbringung, Haftgründe, Rückkehrentscheidung, wirksamer Rechtsbehelf, effektiver Rechtsschutz, ernsthafter Schaden, Zuständigkeit, Unionsrecht, Asylfolgeantrag, Unzulässigkeit, Ingewahrsamnahme, Dauer der Haft, Abschiebung, Abschiebungshaft, Sachleistungen, Geldleistungen, PPU,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 13, RL 2008/115/EG Art. 15, GR-Charta Art. 47, RL 2011/95/EU Art. 15, RL 2013/32/EU Art. 33, GR-Charta Art. 18, EUV Art. 4 Abs. 3, RL 2013/32/EU Art. 32 Abs. 2 Bst. b, RL 2013/32/EU Art. 32 Abs. 2 Bst. d, RL 2013/33/EU Art. 8, RL 2013/33/EU Art. 9, RL 2013/33/EU Art. 26, RL 2013/33/EU Art. 17,
Auszüge:

[...]

Zu Frage 5 [...]

114 Nach Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 ist unter "Rückkehrentscheidung" die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird, zu verstehen. Rückkehrverpflichtung bedeutet nach Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2008/115, dass die betreffende Person in ihr Herkunftsland, in ein Transitland oder in ein anderes Drittland, in das sie freiwillig zurückkehren will und in dem sie aufgenommen wird, zurückkehren muss.

115 Somit ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115, dass die Auferlegung oder Feststellung einer Rückkehrverpflichtung eines der beiden Tatbestandsmerkmale einer Rückkehrentscheidung darstellt. Im Hinblick auf Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2008/115 ist eine solche Rückkehrverpflichtung nicht ohne die Bestimmung eines Ziellandes vorstellbar, das eines der in Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2008/115 genannten Länder sein muss.

116 Folglich ändert die zuständige nationale Behörde, wenn sie das in einer vorausgegangenen Rückkehrentscheidung genannte Zielland ändert, diese so wesentlich, dass sie als eine neue Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 anzusehen ist. [...]

122 Die Gleichsetzung einer Entscheidung, mit der das in einer vorausgegangenen Rückkehrentscheidung angegebene Zielland abgeändert wird, mit einer neuen Rückkehrentscheidung hat nämlich zur Folge, dass die zuständige nationale Behörde, wenn sie eine solche Änderung der Rückkehrentscheidung in Betracht zieht, dafür sorgen muss, dass alle Verfahrensvorschriften der Richtlinie 2008/115 betreffend den Erlass einer Rückkehrentscheidung eingehalten werden. Auf diese Weise ist eine Umsetzung der Rückkehr- und Rückübernahmepolitik gewährleistet, die nicht nur wirksam ist, sondern auch die Grundrechte der betroffenen Person wahrt.

123 Somit ist festzustellen, dass die Änderung des in einer vorausgegangenen Rückkehrentscheidung angegebenen Ziellandes eine neue Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 darstellt, gegen die der betreffende Drittstaatsangehörige über einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 13 Abs. 1 dieser Richtlinie verfügen muss. [...]

125 Insoweit ist erstens festzustellen, dass aus dem Wortlaut dieser Bestimmung klar hervorgeht, dass ein solcher Rechtsbehelf von der Person eingelegt werden können muss, die Gegenstand der Rückkehrentscheidung ist. [...]

126 Zweitens ergibt sich zwar aus dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, dass Rückkehrentscheidungen bei einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch und unabhängig, mittels eines wirksamen Rechtsbehelfs angefochten werden können müssen. Was die Merkmale einer solchen "Verwaltungsbehörde" angeht, die über den Rechtsbehelf gegen die Rückkehrentscheidung zu befinden hat, gibt der Wortlaut aber nichts her. [...]

129 Folglich sind die Mitgliedstaaten nach Art. 47 der Charta verpflichtet, zu gewährleisten, dass für den Drittstaatsangehörigen in irgendeinem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit besteht, eine von einer Verwaltungsbehörde erlassene Rückkehrentscheidung bei einem Gericht anzufechten (vgl. entsprechend Urteil vom 13. Dezember 2017, El Hassani, C-403/16, EU:C:2017:960, Rn. 41).

130 Danach genügt eine nationale Regelung, nach der der Adressat einer von einer Verwaltungsbehörde erlassenen Rückkehrentscheidung diese nicht zumindest in einer Instanz vor einem Gericht anfechten kann, nicht den Anforderungen von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 und Art. 47 der Charta (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C-181/16, EU:C:2018:465, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). [...]

136 Nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der gesetzgebenden und gegenüber der vollziehenden Gewalt zu gewährleisten (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C-585/18, C-624/18 und C-625/18, EU:C:2019:982, Rn. 124).

137 Folglich ist eine nationale Regelung, die vorsieht, dass eine Entscheidung wie die oben in Rn. 123 beschriebene von der betreffenden Person bei einer Behörde angefochten werden muss, die nicht den Anforderungen des Art. 47 der Charta genügt, ohne dass eine spätere gerichtliche Überprüfung der Entscheidung dieser Behörde gewährleistet ist, nicht mit Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 vereinbar und verkennt darüber hinaus den Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts, indem sie der betreffenden Person jegliche gerichtliche Rechtsbehelfe gegen eine sie betreffende Rückkehrentscheidung vorbehält (vgl. entsprechend Urteile vom 29. Juli 2019, Torubarov, C-556/17, EU:C:2019:626, Rn. 72, und vom 19. November 2019, A. K. u.a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C-585/18, C-624/18 und C-625/18, EU:C:2019:982, Rn. 165). [...]

144 Die nationalen Gerichte haben sich daher für eine Klage, die von dem Betroffenen erhoben wird, um die ihm durch das Unionsrecht garantierten Rechte zu verteidigen, für zuständig zu erklären, selbst wenn die innerstaatlichen Verfahrensvorschriften dies in einem solchen Fall nicht vorsehen (vgl. entsprechend Urteile vom 3. Dezember 1992, Oleificio Borelli/Kommission, C-97/91, EU:C:1992:491, Rn. 13, und vom 19. Dezember 2018, Berlusconi und Fininvest, C-219/17, EU:C:2018:1023, Rn. 46). [...]

Zu Frage 1 [...]

149 Nach Art. 33 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 müssen die Mitgliedstaaten zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der Verordnung Nr. 604/2013 ein Antrag nicht geprüft wird, nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95 zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage von Art. 33 der Richtlinie 2013/32 als unzulässig betrachtet wird. Die Fälle, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können, sind in Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 abschließend aufgezählt (Urteile vom 19. März 2019, Ibrahim u.a., C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, EU:C:2019:219, Rn. 76, und vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal [Tompa], C-564/18, EU:C:2020:218, Rn. 29). [...]

152 Zu dem Unzulässigkeitsgrund gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 (sicherer Drittstaat) ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut dieser Bestimmung einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können, wenn ein Staat, der kein Mitgliedstaat ist, als für den Antragsteller sicherer Drittstaat gemäß Art. 38 betrachtet wird. [...]

159 Nach alledem kann die Durchreise des Antragstellers auf internationalen Schutz durch den betreffenden Drittstaat keine "Verbindung" im Sinne von Art. 38 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 darstellen.

160 Folglich kann die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung keine Anwendung des Unzulässigkeitsgrundes gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 (sicherer Drittstaat) darstellen (Urteil vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal [Tompa], C-564/18, EU:C:2020:218, Rn. 51).

161 Eine solche nationale Regelung kann auch keine Anwendung des Unzulässigkeitsgrundes gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 (erster Asylstaat) darstellen (Urteil vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal [Tompa], C-564/18, EU:C:2020:218, Rn. 52).

162 Insoweit genügt der Hinweis, dass ein Staat schon nach dem Wortlaut von Art. 35 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/32 nur dann als erster Asylstaat eines Antragstellers auf internationalen Schutz angesehen werden kann, wenn dieser in dem betreffenden Staat als Flüchtling anerkannt wurde und er diesen Schutz weiterhin in Anspruch nehmen darf oder wenn ihm dort anderweitig ausreichender Schutz, einschließlich der Anwendung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung, gewährt wird, vorausgesetzt, dass er von diesem Staat wieder aufgenommen wird (Urteil vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal [Tompa], C-564/18, EU:C:2020:218, Rn. 53). [...]

Zu Frage 2 [...]

189 Selbst wenn es nach nationalem Recht zulässig sein sollte, dass die Asylbehörde eine Entscheidung, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz unter Verstoß gegen das Unionsrecht für unzulässig erklärt wird, überprüft, gebietet das Unionsrecht demnach keine erneute Prüfung von Amts wegen.

190 Somit ist festzustellen, dass die Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 18 der Charta und dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) der Asylbehörde im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2013/32 nicht gebietet, einen Antrag auf internationalen Schutz von Amts wegen erneut zu prüfen, der mit einer Entscheidung abgelehnt wurde, die durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung bestätigt wurde, bevor die Unionswidrigkeit der ablehnenden Entscheidung festgestellt worden ist. [...]

192 Insoweit ist festzustellen, dass das Vorliegen einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung, mit der die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz aus einem unionsrechtswidrigen Grund bestätigt wurde, den Betroffenen nicht daran hindert, einen Folgeantrag im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 zu stellen. Dieser kann sein in Art. 18 der Charta verankertes und in den Richtlinien 2011/95 und 2013/32 konkretisiertes Recht auf Anerkennung als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz also trotz einer solchen Entscheidung noch durchsetzen, sofern die entsprechenden unionsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind.

193 Nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 kann ein solcher Folgeantrag zwar für unzulässig erklärt werden, wenn bei ihm keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu den Voraussetzungen der Anerkennung als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind.

194 Die Existenz eines Urteils des Gerichtshofs, mit dem die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht festgestellt wird, nach der ein Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückgewiesen werden kann, weil der Antragsteller in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats durch einen Staat eingereist ist, in dem er keiner Verfolgung ausgesetzt war und in dem für ihn auch nicht die Gefahr bestand, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, oder in dem ein angemessener Schutz gewährleistet war, stellt aber im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 eine neue Erkenntnis im Hinblick auf die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz dar, so dass der Folgeantrag nicht auf der Grundlage dieser Bestimmung abgelehnt werden kann. [...]

198 Folglich ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen, dass er auf einen Folgeantrag im Sinne von Art. 2 Buchst. q dieser Richtlinie nicht anwendbar ist, wenn die Asylbehörde im Sinne von Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie feststellt, dass die bestandskräftige Ablehnung des früheren Antrags unionsrechtswidrig ist. Dies gilt zwingend, wenn sich die Unionsrechtswidrigkeit der Ablehnung des ersten Asylantrags wie hier aus einem Urteil des Gerichtshofs ergibt oder von einem nationalen Gericht inzident festgestellt worden ist. [...]

Zu Fragen 3 und 4 [...]

Zum Vorliegen einer Haft [...]

Zum Begriff der Haft [...]

223 Somit ist festzustellen, dass die Haft einer Person, die internationalen Schutz beantragt, im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 eine Zwangsmaßnahme darstellt, mit der der betreffenden Person ihre Bewegungsfreiheit entzogen wird und mit der sie vom Rest der Bevölkerung isoliert wird, indem sie dazu gezwungen wird, sich ständig in einem eingegrenzten, geschlossenen Bereich aufzuhalten.

224 Was als Zweites den Begriff der Haft im Sinne der Richtlinie 2008/115 angeht, ist festzustellen, dass dieser Begriff dort weder in Art. 16 noch in einer anderen Bestimmung definiert ist. Es gibt jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Unionsgesetzgeber dem Begriff der Haft im Rahmen der Richtlinie 2008/115 eine andere Bedeutung hätte beimessen wollen, als sie ihm im Rahmen der Richtlinie 2013/33 zukommt. Im Übrigen zählt die Richtlinie 2013/33, insbesondere ihr Art. 8 Abs. 3 Buchst. d, zu den zulässigen Fällen der Haft im Sinne dieser Richtlinie ausdrücklich den Fall, dass sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufgrund eines Rückkehrverfahrens gemäß der Richtlinie 2008/115 in Haft befindet. Dies stützt die Auslegung, dass der Begriff der Haft im Sinne dieser beiden Richtlinien denselben Inhalt hat.

225 Danach stellt die Haft eines illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen im Sinne der Richtlinie 2008/115 eine Zwangsmaßnahme gleicher Art wie die in Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 definierte und oben in Rn. 223 beschriebene Zwangsmaßnahme dar.

– Zu den Haftbedingungen, um die es in den Ausgangsverfahren geht

226 Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 68 bis 70), geht aus den Vorlageentscheidungen hervor, dass die Kläger der Ausgangsverfahren seit dem Zeitpunkt ihrer Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet verpflichtet sind, sich ständig in der Transitzone Röszke aufzuhalten, die von einem hohen Stacheldrahtzaun umgeben ist. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts sind die Kläger der Ausgangsverfahren in Containern mit einer Fläche von nicht mehr als 13 m² untergebracht. Sie dürfen ohne Erlaubnis keinen Besuch von Personen außerhalb der Transitzone empfangen, und ihre Bewegungsmöglichkeiten innerhalb der Transitzone sind beschränkt. Sie werden von den Sicherheitskräften, die in der Transitzone und in deren unmittelbarer Umgebung ständig präsent sind, überwacht.

227 Wie der Generalanwalt in Nr. 167 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich somit aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten, dass sich die Unterbringung der Kläger der Ausgangsverfahren in der Transitzone Röszke nicht von einer Haft unterscheidet. [...]

Zu den in den Richtlinien 2013/32 und 2013/33 vorgesehenen Haftbedingungen [...]

235 Vor diesem Hintergrund ist als Erstes festzustellen, dass Art. 43 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, an der Grenze oder in Transitzonen besondere Verfahren vorzusehen, um über die Zulässigkeit eines an derartigen Orten gestellten Antrags auf internationalen Schutz gemäß Art. 33 oder in den in Art. 31 Abs. 8 der Richtlinie genannten Fällen über die Begründetheit eines solchen Antrags zu entscheiden, solange diese Verfahren die Grundsätze und Garantien nach Kapitel II der Richtlinie beachten. Nach Art. 43 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 müssen solche besonderen Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist abgeschlossen werden. Ist innerhalb von vier Wochen keine Entscheidung, mit der der Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wird, ergangen, muss der betreffende Mitgliedstaat dem Antragsteller die Einreise in sein Hoheitsgebiet gestatten. Sein Antrag ist nach Ablauf der Frist von vier Wochen im allgemeinen Verfahren zu bearbeiten. [...]

241 Demnach kann die Inhaftierung einer Person, die internationalen Schutz beantragt, in einer Transitzone über einen Zeitraum von vier Wochen ab Antragstellung im Sinne von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 hinaus nicht nach Art. 43 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie gerechtfertigt werden.

242 Als Zweites ist allerdings darauf hinzuweisen, dass nach Art. 43 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32, wenn es aufgrund der Ankunft einer erheblichen Anzahl von Personen, die internationalen Schutz beantragen, nicht möglich ist, die besonderen Verfahren, die von den Mitgliedstaaten gemäß Art. 43 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehen werden, an der Grenze oder in Transitzonen anzuwenden, die genannten Verfahren in diesen Fällen und für die Zeit angewandt werden können, in der die Personen, die internationalen Schutz beantragen, normalerweise in der Nähe der Grenze oder Transitzone untergebracht werden. [...]

245 Indem Art. 43 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 verlangt, dass die Antragsteller unter normalen Bedingungen untergebracht werden, schließt er die Möglichkeit, sie weiter in Gewahrsam zu behalten, zwangsläufig aus. Die Bedingungen für die normale Unterbringung von Personen, die internationalen Schutz beantragen, sind nämlich in den Art. 17 und 18 der Richtlinie 2013/33 geregelt. Danach hat eine Person, die internationalen Schutz beantragt, grundsätzlich Anspruch auf eine Geldleistung, mit der sie sich eine Unterkunft leisten kann, oder auf Unterbringung an einem anderen Ort als in einer Hafteinrichtung als Sachleistung.

246 Daraus folgt, dass Art. 43 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 einen Mitgliedstaat nicht ermächtigt, Personen, die internationalen Schutz beantragen, an der Grenze oder in einer Transitzone über die oben in Rn. 241 genannte Dauer von vier Wochen hinaus in Gewahrsam zu nehmen. Dies gilt auch dann, wenn es aufgrund der Ankunft einer erheblichen Anzahl von Personen, die internationalen Schutz beantragen, unmöglich ist, die in Art. 43 Abs. 1 der Richtlinie genannten Verfahren innerhalb dieser Frist durchzuführen.

247 Nach Art. 43 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 dürfen die Personen, die internationalen Schutz beantragen, nach Ablauf der Frist von vier Wochen zwar grundsätzlich in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats einreisen. Allerdings erlaubt Abs. 3 dieses Artikels dem betreffenden Mitgliedstaat, die Bewegungsfreiheit dieser Personen gemäß Art. 7 der Richtlinie 2013/33 auf ein Gebiet in der Nähe der Grenze oder eine Transitzone zu beschränken.

248 Nach alledem ist auf die Frage 3a zu antworten, dass Art. 43 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass er nicht erlaubt, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt, länger als vier Wochen in einer Transitzone in Gewahrsam genommen wird.

– Zu den Art. 8 und 9 der Richtlinie 2013/33 [...]

250 Als Erstes ist festzustellen, dass in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 2013/33 die verschiedenen Gründe, aus denen eine Inhaftnahme einer Person, die internationalen Schutz beantragt, gerechtfertigt sein kann, erschöpfend aufgezählt werden und dass jeder von ihnen einem besonderen Bedürfnis entspricht und autonomen Charakter hat (Urteile vom 15. Februar 2016, N., C-601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 59, und vom 14. September 2017, K., C-18/16, EU:C:2017:680, Rn. 42). [...]

254 Folglich muss einer Person, die internationalen Schutz beantragt, wenn sie außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, entweder eine Geldleistung gewährt werden, mit der sie sich eine Unterkunft leisten kann, oder die Unterbringung an einem der in Art. 18 der Richtlinie genannten Orte als Sachleistung. Diese Orte sind von den in Art. 10 der Richtlinie genannten Hafteinrichtungen zu unterscheiden. Bei einer Person, die internationalen Schutz beantragt und außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, darf die Gewährung von Unterbringung als Sachleistung im Sinne von Art. 18 der Richtlinie daher nicht dazu führen, dass ihr ihre Bewegungsfreiheit entzogen wird, abgesehen von den Sanktionen, die gemäß Art. 20 der Richtlinie gegen sie verhängt werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. November 2019, Haqbin, C-233/18, EU:C:2019:956, Rn. 52). [...]

256 Somit ist festzustellen, das Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 2013/33 dem entgegensteht, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt, allein deshalb in Haft genommen wird, weil sie außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. [...]

258 Nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 darf eine Person, die internationalen Schutz beantragt, nur dann in Haft genommen werden, wenn eine Einzelfallprüfung ergibt, dass dies erforderlich ist, und wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen. Danach dürfen die nationalen Behörden eine Person, die internationalen Schutz beantragt, nur dann in Haft nehmen, wenn sie zuvor geprüft haben, ob die Inhaftnahme im konkreten Fall im Hinblick auf das mit ihr verfolgte Ziel verhältnismäßig ist (Urteil vom 14. September 2017, K., C-18/16, EU:C:2017:680, Rn. 48).

259 Somit ist festzustellen, dass Art. 8 Abs. 2 und 3 und Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 dem entgegenstehen, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt, in Haft genommen wird, ohne dass vorher die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit einer solchen Maßnahme geprüft worden sind und ohne dass eine Justiz- oder Verwaltungsbehörde eine Entscheidung erlassen hat, in der die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft angegeben sind.

260 Als Drittes ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen haben, dass eine von einer Verwaltungsbehörde angeordnete Haft einer Person, die internationalen Schutz beantragt, von einem Gericht von Amts wegen und/oder auf Antrag des Antragstellers zügig auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft wird (Art. 9 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 2013/33). Die Haft muss in angemessenen Zeitabständen von Amts wegen und/oder auf Antrag des betroffenen Antragstellers von einer Justizbehörde überprüft werden (Art. 9 Abs. 5 der Richtlinie 2013/33).

261 Danach steht Art. 9 Abs. 3 und 5 der Richtlinie 2013/33 dem entgegen, dass ein Mitgliedstaat keine gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer behördlichen Entscheidung vorsieht, mit der die Inhaftnahme einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, angeordnet wird.

262 Als Viertes ist festzustellen, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 bestimmt, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt, für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen wird, wie der betreffende Grund für die Inhaftnahme gegeben ist, dass die Verwaltungsverfahren in Bezug auf den betreffenden Grund für die Inhaftnahme mit der gebotenen Sorgfalt durchzuführen sind und dass Verzögerungen in den Verwaltungsverfahren, die nicht dem Antragsteller zuzurechnen sind, keine Fortdauer der Haft rechtfertigen. [...]

265 Somit ist festzustellen, dass Art. 9 der Richtlinie 2013/33 einer Regelung eines Mitgliedstaats, die nicht vorsieht, dass die Inhaftierung einer Person, die internationalen Schutz beantragt, nach Ablauf einer bestimmten Frist automatisch als rechtswidrig gilt, nicht entgegensteht, sofern der betreffende Mitgliedstaat dafür sorgt, dass die Haft nur so lange dauert, wie der betreffende Haftgrund gegeben ist und dass die Verwaltungsverfahren in Bezug auf den Haftgrund mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden. [...]

Zu den in der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Haftbedingungen [...]

268 Als Erstes ist festzustellen, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ausdrücklich bestimmt, dass die Haft eines in dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, bei dem keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, nur in Betracht kommt, um die Rückkehr dieser Person vorzubereiten und/oder ihre Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn Fluchtgefahr besteht oder die Person die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgeht oder behindert.

269 Die Mitgliedstaaten dürfen der betreffenden Person daher nur dann durch Inhaftnahme die Freiheit entziehen, wenn die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung mittels Abschiebung durch das Verhalten des Betroffenen gefährdet zu werden droht, was für den konkreten Einzelfall zu beurteilen ist (Urteil vom 28. April 2011, El Dridi, C-61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 39).

270 Dass der Drittstaatsangehörige Gegenstand einer Rückkehrentscheidung ist und außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, reicht nicht aus, um ihn auf der Grundlage von Art. 15 der Richtlinie 2008/115 in Haft zu nehmen.

271 Ein solcher Fall ist kein Fall, in dem die Wirksamkeit der Rückkehr- und Abschiebungsverfahren gefährdet wäre, wenn keine Haftmaßnahme angeordnet würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. November 2009, Kadzoev, C-357/09 PPU, EU:C:2009:741, Rn. 68 und 70).

272 Demnach verbietet Art. 15 der Richtlinie 2008/115, dass ein Drittstaatsangehöriger nur deshalb in Haft genommen wird, weil er Gegenstand einer Rückkehrentscheidung ist und außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.

273 Als Zweites ist festzustellen, dass sich aus Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 ergibt, dass die Inhaftnahme von einer Verwaltungs- oder Justizbehörde schriftlich angeordnet werden muss und in der Anordnung die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Inhaftnahme angegeben werden müssen. Diese Verpflichtung zur Mitteilung der Gründe ist sowohl erforderlich, um es der betreffenden Person zu ermöglichen, ihre Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für sie von Nutzen ist, den zuständigen Richter anzurufen, als auch, um diesen vollständig in die Lage zu versetzen, die Rechtmäßigkeit der fraglichen Entscheidung zu kontrollieren (Urteil vom 5. Juni 2014, Mahdi, C-146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 41 und 45). [...]

275 Folglich steht Art. 15 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 dem entgegen, dass ein im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Haft genommen wird, ohne dass vorher die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit einer solchen Maßnahme geprüft worden sind und ohne dass die Haft mit einer Entscheidung, in der die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft angegeben sind, angeordnet worden ist.

276 Als Drittes ist festzustellen, dass Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 3 der Richtlinie 2008/115 bestimmt, dass die Mitgliedstaaten für Fälle, in denen die Inhaftnahme von einer Verwaltungsbehörde angeordnet wurde, vorsehen, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme von Amts wegen oder auf Antrag des betreffenden Drittstaatsangehörigen innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüft wird. Und nach Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 muss bei längerer Haftdauer die Überprüfung der Inhaftnahme, die in gebührenden Zeitabständen zu erfolgen hat, der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen.

277 Danach steht Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2008/115 dem entgegen, dass ein Mitgliedstaat keine gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer behördlichen Entscheidung vorsieht, mit der die Inhaftnahme eines im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen angeordnet wird.

278 Als Viertes ist festzustellen, dass sich aus Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 2 und Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 ergibt, dass die Dauer der Haft eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen so kurz wie möglich sein muss und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen erstrecken darf, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden, und dass, wenn sich herausstellt, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen, die die Inhaftnahme gerechtfertigt haben, nicht mehr gegeben sind, die Haft nicht länger gerechtfertigt ist und die betreffende Person unverzüglich freizulassen ist. [...]

280 Somit ist festzustellen, dass Art. 15 Abs. 1 und Abs. 4 bis 6 der Richtlinie 2008/115 einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die nicht vorsieht, dass die Haft eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nach Ablauf einer Höchstdauer von 18 Monaten automatisch als rechtswidrig gilt, und nicht gewährleistet, dass sich die Haftdauer nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen erstreckt, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden. [...]

Zu den Folgen einer rechtswidrigen Haft [...]

288 Insoweit ist erstens festzustellen, dass Art. 15 der Richtlinie 2008/115 unbedingt und hinreichend genau ist und damit unmittelbare Wirkung hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. April 2011, El Dridi, C-61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 46 und 47, und vom 5. Juni 2014, Mahdi, C-146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 54). Aus denselben Gründen hat auch Art. 9 der Richtlinie 2013/33 unmittelbare Wirkung. [...]

290 Zweitens ist festzustellen, dass eine nationale Regelung, die nicht gewährleistet, dass die Rechtmäßigkeit der behördlichen Entscheidung, mit der die Inhaftierung einer Person, die internationalen Schutz beantragt, oder eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen angeordnet wird, in irgendeiner Weise gerichtlich überprüft wird, nicht nur gegen Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 3 der Richtlinie 2008/115 und Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 verstößt (siehe oben, Rn. 261 und 277), sondern auch den Wesensgehalt des durch Art. 47 der Charta garantierten Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verkennt, indem sie schlechterdings verhindert, dass ein Gericht darüber entscheidet, ob die Rechte und Freiheiten, die das Unionsrecht einem inhaftierten Drittstaatsangehörigen garantiert, beachtet worden sind. [...]

292 Als Zweites ist festzustellen, dass Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 3 der Richtlinie 2008/115 und Art. 9 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/33 ausdrücklich bestimmen, dass die betreffende Person unverzüglich freizulassen ist, wenn die Haft als nicht rechtmäßig angesehen wird.

293 In einem solchen Fall muss das nationale Gericht in der Lage sein, die Entscheidung der Verwaltungsbehörde, die die Inhaftnahme angeordnet hat, durch seine eigene Entscheidung zu ersetzen und eine Alternative zur Inhaftnahme oder die Freilassung der betreffenden Person anzuordnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2014, Mahdi, C-146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 62). Die Anordnung einer Alternative zur Inhaftnahme kommt jedoch nur in Betracht, wenn der Grund, der die Haft der betreffenden Person rechtfertigte, gültig war und gültig bleibt, die Haft im Hinblick auf diesen Grund aber nicht oder nicht mehr erforderlich oder verhältnismäßig erscheint.

294 Daher ist das vorlegende Gericht nach Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 und Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33, wenn nach nationalem Recht kein anderes Gericht zuständig ist, befugt, die sofortige Freilassung der Kläger der Ausgangsverfahren anzuordnen, wenn es der Auffassung ist, dass ihre Unterbringung in der Transitzone Röszke im Bereich für Drittstaatsangehörige, deren Asylantrag abgelehnt wurde, eine Inhaftierung darstellt, die gegen die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts verstößt.

295 Als Drittes ist, was die Möglichkeit angeht, einstweilig anzuordnen, dass die zuständige Verwaltungsbehörde die Kläger der Ausgangsverfahren unterzubringen hat, für die Personen, die internationalen Schutz beantragen, festzustellen, dass Art. 9 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/33 zwar lediglich verlangt, dass solche Personen unverzüglich freigelassen werden, falls sich die Haft als unrechtmäßig herausstellt. Diese Personen behalten aber auch nach ihrer Freilassung ihre Eigenschaft als Personen, die internationalen Schutz beantragen, und haben in dieser Eigenschaft Anspruch auf die materiellen Leistungen im Rahmen der Aufnahme gemäß Art. 17 der Richtlinie 2013/33. Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 245), gehört zu diesen materiellen Leistungen im Rahmen der Aufnahme aber eine Geldleistung, mit der sich die Person, die internationalen Schutz beantragt, eine Unterkunft leisten kann, oder die Unterbringung als Sachleistung. [...]

298 Somit ist festzustellen, dass Art. 26 der Richtlinie 2013/33 gebietet, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt, nach ihrer Entlassung aus der Haft bei dem nach nationalem Recht zuständigen Gericht ihren Anspruch auf eine Geldleistung, mit der sie sich eine Unterkunft leisten kann, oder eine Unterbringung als Sachleistung geltend machen kann, wobei dieses Gericht nach dem Unionsrecht die Möglichkeit hat, bis zu seiner endgültigen Entscheidung vorläufige Maßnahmen zu erlassen.

299 Aus denselben Gründen wie den oben in den Rn. 138 bis 146 dargelegten gebieten der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts und der in Art. 47 der Charta garantierte Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz dem vorlegenden Gericht, sich für die Entscheidung über eine entsprechende Klage für zuständig zu erklären, wenn hierfür nach nationalem Recht kein anderes Gericht zuständig ist.

300 Was zweitens Drittstaatsangehörige betrifft, deren Asylantrag abgelehnt wurde, ist festzustellen, dass Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 3 der Richtlinie 2008/115 wie Art. 9 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/33 lediglich verlangt, dass die betreffende Person unverzüglich freigelassen wird, wenn sich ihre Inhaftnahme als nicht rechtmäßig herausstellt. [...]