LSG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.05.2020 - L 15 AY 14/20 B ER, L 15 AY 15/20 B ER PKH - asyl.net: M28539
https://www.asyl.net/rsdb/M28539
Leitsatz:

Zimmer in Gemeinschaftsunterkunft ist auch bei Einzelbelegung im Rahmen der Corona-Schutzmaßnahmen keine "Wohnung"; deshalb keine Leistungen nach Regelbedarfsstufe 1:

"Leistungsberechtigte Personen nach dem AsylbLG, die in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünften oder vergleichbaren sonstigen Unterkünften untergebracht sind, haben auch dann keinen Anspruch auf Leistungen nach den Bedarfssätzen für Personen in Wohnungen im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 3 Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG), wenn sie zur gemeinschaftlichen Nutzung vorgesehene Räumlichkeiten wegen Vorgaben aufgrund der "Corona-Krise" nur eingeschränkt – im Besonderen nicht zeitgleich mit anderen Personen – nutzen können."

(Amtlicher Leitsatz; diese Entscheidung erging als PKH-Beschluss)

Schlagwörter: Corona-Virus, Wohnung, Sozialrecht, Prozesskostenhilfe, Asylbewerberleistungsgesetz, Bedarfsstufe, Bedarfsgemeinschaft, Sozialrecht, alleinstehend, Gemeinschaftsunterkunft, Sozialstaatsprinzip, Existenzminimum, Gleichheitsgrundsatz, allgemeiner Gleichheitssatz, Bedarf, Regelleistung, Grundleistungen, Aufnahmeeinrichtung, Regelbedarf, Gemeinschaftsunterbringung, gemeinsames Wirtschaften, soziokulturelles Existenzminimum, Bargeldbedarf, vorläufiger Rechtsschutz, Schicksalsgemeinschaft, Sammelunterkunft, Verfassungsmäßigkeit, Einspareffekt, Paarhaushalt, verfassungskonforme Auslegung, Auslegung, Leistungskürzung, alleinstehend,
Normen: AsylbLG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylbLG § 3a Abs. 2 Nr. 1, Regelbedarfsermittlungsgesetz § 8 Abs. 1 Satz 3
Auszüge:

[...]

Dem übrigen Vortrag der Antragstellerin ist zu entnehmen, dass sie jedenfalls Leistungen unter Berücksichtigung der Bedarfssätze für alleinstehende Personen in eigener Wohnung gemäß § 3 Abs. 1 i.V. mit § 3a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG an Stelle der von Personen in Unterkünften gemäß § 3 Abs. 1 i.V. mit § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) und Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b) AsylbLG anstrebt, das heißt von (153 + 198 =) 351,-- € (Geldwert) an Stelle von (139 + 177 =) 316,-- € (Differenz: 35,-- €). [...]

6 Unbegründet ist die Beschwerde, soweit die 1977 geborene und somit volljährige Antragstellerin mit ihr den Erlass einer einstweiligen Anordnung erreichen will. Die Voraussetzungen dafür sind nicht erfüllt. [...]

11 Für die von der Antragstellerin geltend gemachte Leistung gibt es im geltenden einfachen Recht keine Anspruchsgrundlage. In diesem Fall kommt, wie ausgeführt, auch im Wege der Folgenabwägung keine ihr günstige Entscheidung in Betracht. [...]

15 Die Antragstellerin kann auch nicht die Anwendung der oben bereits genannten höheren Bedarfsstufen nach § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG beanspruchen. Sie erfüllt die Voraussetzungen dafür offenkundig nicht. Sie ist zwar erwachsene Leistungsberechtigte, lebt aber nicht in einer Wohnung im Sinne von § 8 Abs. 1 "Satz 2" des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes (RBEG).

16 Die Verweisung auf den Satz 2 des § 8 Abs. 1 RBEG in § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG stellt dabei für die Zeit ab 1. Januar 2020 ein Redaktionsversehen dar. § 8 Abs. 1 Satz 2 RBEG enthielt im Zeitpunkt der Einführung des § 3a AsylbLG und bis Ende 2019 eine (§ 42a Abs. 2 Satz 2 SGB XII entsprechende) Definition der Wohnung. Wohnung ist danach die Zusammenfassung mehrerer Räume, die von anderen Wohnungen oder Wohnräumen baulich getrennt sind und die in ihrer Gesamtheit alle für die Führung eines Haushalts notwendigen Einrichtungen, Ausstattungen und Räumlichkeiten umfassen.

17 Diese Definition findet sich seither wortgleich in § 8 Abs. 1 Satz 3 RBEG. Dafür, dass § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG in der Zeit ab 1. Januar 2020 – nur – auf § 8 Abs. 1 Satz 2 RBEG in der seither geltenden Fassung abstellen wollten, ist nichts ersichtlich. Die Neufassung bestimmt, dass für erwachsene Personen, die nicht in einer Wohnung leben, sondern denen allein oder mit einer weiteren Person ein persönlicher Wohnraum und mit weiteren Personen zusätzliche Räumlichkeiten zur gemeinschaftlichen Nutzung überlassen sind, die Regelbedarfsstufe 2 entsprechend gilt. Sie sollte dem Umstand Rechnung tragen, dass durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) ab 1. Januar 2020 im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe eine neue Wohnform eingeführt werden sollte (BT-Drucks. 18/9984,88). Diese neue Wohnform ist das seither in § 42a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XII (§ 42b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des Gesetzentwurfs zum BTHG, s. BT-Drucks. 159, 335) geregelte Wohnen "nicht in einer Wohnung nach <§ 42a Abs. 2 Satz 1> Nummer 1 …, weil ihnen <den Leistungsberechtigten> allein oder zu zweit ein persönlicher Wohnraum und zusätzliche Räumlichkeiten zur gemeinschaftlichen Nutzung nach Satz 3 zu Wohnzwecken überlassen werden" (nach den Legaldefinitionen des § 42a Abs. 2 Satz 3 SGB XII – die angesichts des Grundes für die Neufassung des § 8 Abs. 1 Satz 2 RBEG auch die dortigen Begrifflichkeiten bestimmen – ist persönlicher Wohnraum ein Wohnraum, der Leistungsberechtigten allein oder zu zweit zur alleinigen Nutzung überlassen wird, und zusätzliche Räumlichkeiten sind Räume, die Leistungsberechtigten zusammen mit weiteren Personen zur gemeinschaftlichen Nutzung überlassen werden).

18 Der der Antragstellerin zur alleinigen Nutzung zur Verfügung stehende Raum erfüllt schon deshalb nicht die Anforderungen an eine Wohnung, weil es sich um einen Einzelraum handelt (s. zum Wohnungsbegriff ausführlich Berlit in Lehr- und Praxiskommentar zum SGB XII, 11. Auflage 2018, § 42a Rn. 5ff). Er lässt auch keine Haushaltsführung zu, weil es an den als Mindestmaß erforderlichen Ausstattungen für Körperpflege (Dusche oder Badewanne) und die Selbstversorgung mit warmen Mahlzeiten (Kochgelegenheit, Spüle bzw. Geschirrspüler, Kühlgerät) fehlt. Solche kann die Antragstellerin nur als Gemeinschaftseinrichtungen mit anderen nutzen.

19 Die wohnraumbezogenen Voraussetzungen für die Anwendung des vom Antragsgegner herangezogenen § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) und Abs. 2 Nr. 2 Buchst b) AsylbLG sind jedenfalls der Sache nach diejenigen, die zur Nichtanwendbarkeit des § 3a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG führen. Eine einer Aufnahmeeinrichtung im Sinne von § 44 Absatz 1 des Asylgesetzes oder einer Gemeinschaftsunterkunft im Sinne von § 53 Absatz 1 des Asylgesetzes vergleichbare sonstige Unterkunft ist eine, die – wie die erstgenannten
– eine eigenständige Haushaltsführung nur in sehr eingeschränktem Umfang zulässt, weil neben einem persönlichen Wohnraum nur Gemeinschaftseinrichtungen zur Verfügung stehen (s. BT-Dr. 19/10052, 24f.).

20 Die wohnraumbezogenen Anforderungen stellen nur darauf ab, ob bestimmte Räumlichkeiten gemeinschaftlich genutzt werden. Keine Bedeutung hat, ob mehrere Personen zeitgleich eine Gemeinschaftseinrichtung nutzen. Angesichts dessen ist es für die Anwendung der genannten Vorschriften ohne Belang, ob die zeitgleiche Nutzung von Gemeinschaftseinrichtungen derzeit auch wegen der geltenden Hygienebestimmungen zur Vermeidung der Ausbreitung des Virus Sars-COV2 ausgeschlossen sein kann. [...]