VG Cottbus

Merkliste
Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 29.05.2020 - 9 K 112/19.A - asyl.net: M28543
https://www.asyl.net/rsdb/M28543
Leitsatz:

Trotz Corona-Pandemie kein Abschiebungsverbot für Person aus Nigeria:

 "Der nigerianische Staat ist hinsichtlich der Kultgruppen grundsätzlich schutzbereit und dazu auch in der Lage.

Hinsichtlich der Bedrohung durch die Kultgruppe "Eiye" besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Bluthochdruck und Diabetes sind in Nigeria behandelbar, auch angesichts der Covid-19-Pandemie."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Nigeria, Kultgruppe, Bruderschaft, Eiye, medizinische Versorgung, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Diabetes mellitus, Hypertonie, Asylrecht, materielles Asylrecht, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1, AsylG § 3e Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

21 Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage nach § 77 Abs. 1 S. 1 des Asylgesetzes (AsylG) maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weder Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG noch auf Asyl gemäß Art. 16a Grundgesetz (GG) noch von subsidiärem Schutz bzw. auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG. Der Bescheid vom 14. Januar 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. [...]

32 Vielmehr sprechen alle Erkenntnisse dafür, dass es sich aus staatlicher Sicht bei den Kultgesellschaften um kriminelle Vereinigungen handelt und dass der nigerianische Staat grundsätzlich schutzbereit und dazu auch in der Lage ist. Denn im nigerianischen "Secret Cult Societies and Similar Activities Prohibition Bill 2012" sind 212 gesetzlich verbotene Bruderschaften bzw. Kulte namentlich aufgelistet, darunter auch die Gruppe "Eiye" bzw. "Aird Lord Fraternity" (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Nigeria: "Geheimbund namens EYE", 1. April 2015, Seite 11 ff). Die nigerianische Polizei hat immer wieder Personen wegen Mitgliedschaft bei "Eiye" verhaftet, unter anderem im Oktober 2015 an der Universität von Lagos, im Dezember 2015 im Ogun State und im März 2016 im Kwara State. Kultmitglieder wurden wiederholt aus Universitäten ausgeschlossen (Immigration and Refugee Board of Canada: Nigeria: The Eiye confraternity, including origin, purpose, structure, membership, recruitment methods, activities and areas of operation, state response, 8. April 2016, Seite 5-6). [...]

37 Auch eine Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch die Kult-Gruppe "Eiye" droht dem Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

38 Das Gericht ist aufgrund des Akteninhalts und der Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht davon überzeugt, dass sich der Vorfall in I... in Lagos, der den Kläger im Sommer 2017 zur Ausreise motiviert haben will, tatsächlich ereignet hat. Denn die Angaben des Klägers zu diesem Teil seiner Verfolgungsgeschichte erachtet das Gericht als gesteigert, widersprüchlich und unsubstantiiert und daher als unglaubhaft. [...]

52 Unabhängig davon scheidet die Zuerkennung des subsidiären Schutzes für den Kläger aus, weil ihm hinsichtlich der Bedrohung durch die Gruppe "Eiye" bzw. "Badoo" eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 AufenthG). [...]

54 Dem Kläger ist es zumutbar, einen Ort außerhalb von Lagos, Benin und dem Südwesten aufzusuchen. Auch religiösen Kulten kann man sich durch Flucht entziehen und sie sind nicht in der Lage, eine Person in ganz Nigeria zu verfolgen. "Kulte" greifen generell niemanden an, der nicht selbst in Kult-Aktivitäten involviert ist. Personen, die sich vor derartigen Gruppierungen fürchten, können entweder Schutz erhalten oder aber eine innerstaatliche Relokationsmöglichkeit in Anspruch nehmen, um der befürchteten Misshandlung zu entgehen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria vom 12. April 2019, zuletzt aktualisiert am 18. Dezember 2019, Seite 34-35). Die Gruppe "Eiye" ist im Südwesten Nigerias und in Benin am prominentesten vertreten (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Nigeria: "Geheimbund namens EYE", 1. April 2015, Seite 1). [...]

61 Dies gilt auch angesichts der aktuellen Covid-19-Pandemie. Es liegen keine belastbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass sich Wirtschaft und Versorgungslage der Bevölkerung trotz internationaler humanitärer Hilfe und lokaler Hilfsbereitschaft derart verschlechtern, dass der Kläger nicht mehr in der Lage wäre, seinen Lebensunterhalt in Nigeria sicherzustellen. Der Internationale Währungsfonds gewährte Nigeria bereits im April 2020 Nothilfe in Höhe von 3,4 Milliarden US-Dollar, um Wirtschaft und Während in der Corona-Krise auch angesichts des Verfalls der Ölpreise zu stabilisieren ("IWF gewährt Nigeria wegen Corona- Krise Milliardenhilfe", www.spiegel.de, 28. April 2020). Selbst wenn bei einer Rückkehr des Klägers noch die aktuellen nächtlichen Ausgangssperren gelten sollten, fehlt es an Anhaltspunkten dafür, dass diese Maßnahmen dauerhaft auf unbestimmte Zeit gelten würden. Die als "Lockdown" bzw. "Ausgangssperre" bezeichneten Maßnahmen wurden außerdem soweit ersichtlich bisher lediglich in Lagos, Abuja und Kano verhängt, jedoch ab Anfang Mai 2020 bereits wieder gelockert. Die Maßnahmen sollen in Lagos und Abuja bis Mitte Juni 2020 auslaufen (https://www.onvista.de/news/lagos-und-abuja-wachen-auf-nigeria-lockert-coronaeinschraenkungen- 355744945). Für andere Orte im Süden Nigerias fehlt es an Angaben darüber, dass überhaupt ein "Lockdown", "Ausgangssperren" oder vergleichbare Maßnahmen verhängt worden wären. [...]

63 Ein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 7 AufenthG scheidet für den Kläger ebenfalls aus. [...]

66 Bei dem Kläger greift die gesetzliche Vermutung, dass seiner Abschiebung keine zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse aus gesundheitlichen Gründen entgegenstehen. [...]

68 Die Diagnosen Diabetes mellitus Typ II, Hypertonie (Bluthochdruck), Hyperlipidämie (erhöhter Fettgehalt des Blutes, Cholesterin) und Hyperlipoproteinämie (Fettstoffwechselstörung) sowie die geringgradige Arthrose der Iliosakralgelenke (Verbindung zwischen Wirbelsäule und Becken) stellen keine Erkrankungen dar, die ein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen rechtfertigen könnten. [...]

69 Dies wird auch nicht durch die aktuelle Covid-19-Pandemie in Frage gestellt. Diese Gefahr droht nicht nur dem Kläger, sondern unterschiedslos allen Bewohnern Nigerias. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG sind derartige Gefahren bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Eine derartige Anordnung gibt es für Nigeria nicht.

70 Wenn eine solche politische Leitentscheidung fehlt, kann der Asylsuchende Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre (Verwaltungsgericht Bayreuth, Urteil v. 21. April 2020 – B 8 K 17.32211, Urteilsabdruck, Seite 22). Dafür, dass der Kläger als 38-Jähriger in Nigeria so schwer an dem Virus erkranken könnte, dass er auch angesichts mangelhafter medizinischer Versorgung in eine existenzielle Gesundheitsgefahr geraten könnte, gibt es keine Anhaltspunkte, zumal er aktuell in Deutschland der Ansteckungsgefahr im selben, wenn nicht in höherem Ausmaß wie im Herkunftsstaat ausgesetzt sein dürfte. Entgegen den alarmierenden Voraussagen von Experten blieb Afrika bislang von einer großen Corona-Katastrophe verschont. Die meisten Infektionen traten bisher in Südafrika und in Ägypten auf (https://www.nzz.ch/international /corona-covid-19-hat-afrika-bis-jetzt-weitgehend-verschont-ld.1555647). Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (Stand: 26. Mai 2020) waren in Nigeria 8.068 Infizierte registriert, davon 2.311 Genesene und 233 Todesfälle (https://www.worldometers.info/coronavirus /country/nigeria/). Die Risikofaktoren für einen schweren Verlauf der Erkrankung wie hohes Lebensalter und/oder entsprechende Vorerkrankungen liegen bei dem Kläger nicht vor. Eine Diabetes-Erkrankung ohne Folgeerkrankungen, insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, erhöht das Risiko nicht (vgl. Diabetes-Portal: www.diabsite.de aktuelles/nachrichten /2020/200319.html). [...]