VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 06.07.2020 - W 8 K 19.31125 - asyl.net: M28682
https://www.asyl.net/rsdb/M28682
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für älteres Ehepaar aus Armenien:

1. Das an schwerwiegenden Erkrankungen leidende ältere Ehepaar hätte bei einer Rückkehr nach Armenien keinen Zugang zu der notwendigen Behandlung und Medikation. 

2. Auch wenn die staatliche Gesundheitsversorgung in Armenien im Grundsatz kostenlos ist, so werden in vielen Fällen für eine umfassende medizinische Versorgung und Medikation private Zuzahlungen verlangt.

3. Vor dem Hintergrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie ist zudem die Sicherstellung des Existenzminimums und die Befriedigung der Grundbedürfnisse für die schwer erkrankten, gebrechlichen Kläger nicht gewährleistet.

(Leitsätze der Redaktion; enthält ausführliche Beschreibung zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie in Armenien)

Schlagwörter: Armenien, medizinische Versorgung, ältere Person, Corona-Virus, Medikamente, Existenzgrundlage, Existenzminimum, Diabetes mellitus, Hypertonie, Adipositas, chronische Erkrankung, Abschiebungsverbot, Attest,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

22 Der angegriffene Bescheid vom 21. Mai 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Kläger haben einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armenien. [...]

24 Die Frage, ob Rückkehrern nach Armenien eine – wirksame – kostenlose Gesundheitsversorgung zur Verfügung steht, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab, insbesondere von Art und Ausmaß der Erkrankung und von der Frage, ob für die jeweilige Person die Kriterien für den kostenfreien Zugang zur Gesundheitsversorgung nach dem BBP ("Basic Benefit Package")-System erfüllt sind und die erforderliche Gesundheitsversorgung realistischerweise auch erreicht werden kann (vgl. OVG LSA, B.v. 23.4.2020 – 2 L 30/20 – juris).

25 Das Gericht ist angesichts der für die Kläger vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen nicht davon
überzeugt, dass die Kläger bei einer Abschiebung nach Armenien die notwendige stationäre wie ambulante Behandlung sowie die erforderliche Medikation in ausreichendem Umfang in ihrem speziellen Einzelfall erreichen können. Das Gericht ist vielmehr davon überzeugt, dass die bei einer Abschiebung drohende längerfristige Behandlungsunterbrechung bis hin zum Behandlungsabbruch zu einer wesentlichen Verschlechterung der Erkrankung der Kläger führen würde. [...]

29 Die von den Klägern sowohl in den einzelnen behördlichen Verfahren als auch im gerichtlichen Verfahren vorgelegten ärztlichen Unterlagen – die allerdings zu einem großen Teil nicht dem Erfordernis einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung nach § 60a Abs. 2c AufenthG entsprechen – sind gleichwohl geeignet, Ausmaß und Umfang der Erkrankungen der Kläger sowie ihrer Bedürftigkeit und erforderlichen Medikation zu entnehmen. Die beiden 64 bzw. 65 Jahre alten Kläger haben nach Überzeugung des Gerichts jeweils schwerwiegende multiple chronische Erkrankungen. [...]

37 Vor diesem Hintergrund liegen nach Überzeugung des Gerichts bei beiden Klägern die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, weil im speziellen Fall die notwendige und ununterbrochene medizinische Versorgung der jeweiligen multiplen chronischen Erkrankungen einschließlich der erforderlichen Medikation bei einer Rückkehr nach Armenien nicht gewährleistet ist, sodass alsbald nach ihrer Rückkehr mit einer deutlichen Verschlimmerung der Leiden der Kläger zu rechnen ist. [...]

57 Unabhängig vom gesundheitlichen Aspekt ist des Weiteren ein Fall des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch dann gegeben, wenn in tatsächlicher Hinsicht mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass der Betreffende nicht in der Lage wäre, sich in Armenien mit den für das Überleben notwendigen Gütern zu versorgen und dort das Existenzminimum zu sichern (OVG NRW, U.v. 4.9.2019 – 11 A 605/15.A – juris). Dabei sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände in die Beurteilung der Gefahrenlage mit einzubeziehen.

58 Abgesehen davon, dass für die Kläger schon im Hinblick auf ihre gesundheitliche Situation ein Abschiebungsverbot wie ausgeführt besteht, ist darüber hinaus und für sich selbst tragend festzustellen, dass die Kläger nach einer ca. 30-jährigen Abwesenheit aus Armenien, ohne Unterkunft und ohne jegliche private Unterstützung und eigene Mittel und aufgrund ihres Alters und ihrer Gebrechen und auch ohne die Möglichkeit, Geld so zu erwirtschaften, verelenden würden. [...]

62 Die Situation wird für die Kläger darüber hinaus zusätzlich durch die Auswirkungen der Corona- Pandemie verschärft. Armenien hat in der Region bezogen auf die Bevölkerungsgröße die meisten bestätigten Infektionsfälle. Trotz eines Hilfspakets der Regierung ist fraglich, ob damit die wirtschaftlichen Einbußen und Nöte der Menschen abgefedert werden können. In Armenien steigt die Zahl der Infektionen und Todesfälle kontinuierlich. Die epidemiologische Situation in Armenien wird mit der Situation seinerzeit in Italien verglichen. Das bereits vor der Pandemie unterfinanzierte Gesundheitssystem ist überlastet. Einreisende müssen in eine strikte Selbstisolation bzw. durch einen Test nachweisen, dass sie nicht an Corona infiziert sind. In Armenien ist die Gefahr einer rapiden Weiterverbreitung des Virus und einer übermäßigen Belastung des Gesundheitssystems nicht gebannt. Am 6. Juli 2020 gab es in Armenien bei ca. drei Millionen Einwohnern 28.606 Infizierte und davon 484 Todesfälle. Es gibt des Weiteren auch eine bedeutende Anzahl von an COVID-19 erkrankten Menschen, die schwere und schwerste Symptome aufweisen. Bei einem weiteren Anstieg der Corona-Erkrankungen und vor allem bei einer Überschreitung der Kapazitätsgrenze im Gesundheitssystem ist mit einer erneuten Verschärfung von Beschränkungen in Wirtschaft und öffentlichem Leben zu rechnen, etwa auch mit örtlich begrenzten und zeitlich befristeten Einschränkungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Die Corona-Pandemie hat zu eingreifenden sozioökonomischen Risiken geführt, zu Einkommenseinbußen, Entlassungen und Betriebsschließungen. Die verwundbarsten Gruppen in Armenien während der Pandemie sind diejenigen, die – wie gerade die Kläger – schon vor der Pandemie verwundbar waren und deren Situation jetzt noch schwieriger wird. Es handelt sich dabei um einsame und kinderlose ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, Vertriebene und Arbeitsmigranten, Mehrkinder-Familien und alleinerziehende Mütter usw. Obwohl Armenien soziale Unterstützungsmaßnahmen eingeführt hat, wurden die meisten der gefährdeten Gruppen von diesen Unterstützungsprogrammen ausgenommen (vgl. zum Ganzen Österreichisches Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten, Reiseinformationen Armenien vom 3.7.2020; GTAI, Germany Trade & Invest, COVID- 19, Allgemeine Situation und Konjunkturentwicklung vom 16.6.2020; WKO, die Wirtschaftskammer Österreich, Corona-Virus: Situation in Armenien vom 16.6.2020; Heinrich-Böll-Stiftung: Das Corona-Virus hat Armenien den Krieg erklärt vom 15.6.2020; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation, Zone Russische Föderation/Kaukasus und Iran, COVID-19-Information vom 9.6.2020, S. 4 f und vom 25.3.2020, S. 2 f; Stiftung Wissenschaften und Politik, SWP-Aktuell Nr. 28, April 2020, S. 4).

63 Hinzu kommt, dass die Kläger beide sowohl aufgrund ihres Alters als auch aufgrund ihrer multiplen Erkrankungen zu der Personengruppe mit einem höheren Risiko für einen schweren, möglicherweise lebensbedrohlichen Verlauf der COVID-19 Erkrankung gehören (vgl. RKI, Informationen und Hilfestellungen für Personen mit einem höheren Risiko für einen schweren COVID-19-Krankheitsverlauf; abrufbar unter www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikogruppen.html [...]).