EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 14.01.2021 - C-441/19 TQ gg. Niederlande (Asylmagazin 7-8/2021, S. 296 f.) - asyl.net: M29221
https://www.asyl.net/rsdb/m29221
Leitsatz:

Rückkehrentscheidung und Abschiebung von unbegleiteten Minderjährigen:

1. Vor Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber unbegleiteten Minderjährigen muss eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation der minderjährigen Person erfolgen, wobei das Wohl des Kindes gebührend berücksichtigt werden muss. Dabei muss sich der Mitgliedstaat vergewissern, dass für den Minderjährigen eine geeignete Aufnahmemöglichkeit im Rückkehrstaat zur Verfügung steht.

2. Vor der Abschiebung müssen die Behörden des Aufnahmestaates sich vergewissern, dass die minderjährige Person einem Familienmitglied, einem offiziellen Vormund oder einer sonstigen geeigneten Aufnahmeeinrichtung tatsächlich übergeben werden kann. Nach einer solchen Prüfung ist kein Raum mehr für eine Entscheidung, die Rückführung bis zur Volljährigkeit aufzuschieben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, Volljährigkeit, Abschiebung, Kindeswohl, TQ, Niederlande
Normen: RL 2008/115 Art. 10
Auszüge:

[...]

46 Wie der Generalanwalt in Nr. 69 seiner Schlussanträge festgestellt hat, macht nur eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des betreffenden unbegleiteten Minderjährigen es möglich, das "Wohl des Kindes" zu ermitteln und eine Entscheidung zu treffen, die den Anforderungen der Richtlinie 2008/115 entspricht.

47 Der betreffende Mitgliedstaat hat daher bei der Entscheidung, ob er gegen einen unbegleiteten Minderjährigen eine Rückkehrentscheidung erlässt, mehrere Gesichtspunkte gebührend zu berücksichtigen, und zwar insbesondere das Alter, das Geschlecht, die besondere Schutzbedürftigkeit, den physischen und psychischen Gesundheitszustand, die Unterbringung in einer Aufnahmefamilie, das Schulbildungsniveau und das soziale Umfeld des Minderjährigen.

48 In dieser Hinsicht ergibt sich aus Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, dass vor Ausstellung einer Rückkehrentscheidung für unbegleitete Minderjährige Unterstützung durch geeignete Stellen, bei denen es sich nicht um die für die Vollstreckung von Rückkehrentscheidungen zuständigen Behörden handelt, unter gebührender Berücksichtigung des Wohles des Kindes gewährt wird. Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie sieht vor, dass vor Abschiebung von unbegleiteten Minderjährigen aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats die Behörden dieses Mitgliedstaats sich vergewissern, dass die Minderjährigen einem Mitglied ihrer Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben werden.

49 Art. 10 der Richtlinie 2008/115 unterscheidet somit zwischen den Pflichten des Mitgliedstaats "vor Ausstellung einer Rückkehrentscheidung für unbegleitete Minderjährige" und "vor Abschiebung von unbegleiteten Minderjährigen aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates".

50 Die niederländische Regierung folgert daraus, dass der betreffende Mitgliedstaat eine Rückkehrentscheidung gegen einen unbegleiteten Minderjährigen erlassen darf, ohne sich vorher vergewissern zu müssen, dass er einem Mitglied seiner Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben wird. Die Pflicht zur Vornahme einer solchen Untersuchung entstehe erst im Stadium der Abschiebung aus dem Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats.

51 Das Vorliegen einer solchen Pflicht befreit den betreffenden Mitgliedstaat jedoch nicht von den übrigen Prüfpflichten gemäß der Richtlinie 2008/115. Insbesondere schreibt Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 – wie in Rn. 44 des vorliegenden Urteils ausgeführt – vor, dass das Wohl des Kindes in allen Stadien des Verfahrens zu berücksichtigen ist.

52 Wenn der betreffende Mitgliedstaat eine Rückkehrentscheidung erließe, ohne zuvor sich vergewissert zu haben, ob es für den fraglichen unbegleiteten Minderjährigen im Rückkehrstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit gibt, hätte dies aber zur Folge, dass der Minderjährige, obgleich eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen wurde, gemäß Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 nicht abgeschoben werden könnte, wenn im Rückkehrstaat keine geeignete Aufnahmemöglichkeit vorhanden ist.

53 Der fragliche unbegleitete Minderjährige würde somit in eine Situation großer Unsicherheit hinsichtlich seiner Rechtsstellung und seiner Zukunft versetzt, insbesondere in Bezug auf seine Schulausbildung, seine Verbindung zu einer Pflegefamilie oder die Möglichkeit, in dem betreffenden Mitgliedstaat zu bleiben.

54 Eine solche Situation liefe der in Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 und Art. 24 Abs. 2 der Charta vorgesehenen Anforderung zuwider, dass das Wohl des Kindes in allen Stadien des Verfahrens zu berücksichtigen ist.

55 Aus den genannten Vorschriften ergibt sich, dass der betreffende Mitgliedstaat vor Erlass einer Rückkehrentscheidung eine Untersuchung durchführen muss, um konkret zu prüfen, ob für den fraglichen unbegleiteten Minderjährigen im Rückkehrstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung steht.

56 Steht keine solche Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung, kann gegen den Minderjährigen keine Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ergehen. [...]

59 Folglich muss die zuständige nationale Behörde, wenn sie eine Rückkehrentscheidung zu erlassen beabsichtigt, zwingend die nach Art. 5 der Richtlinie  008/115 vorgeschriebenen Pflichten einhalten und den Betroffenen hierzu anhören. Aus der genannten Rechtsprechung geht ferner hervor, dass der betreffende Mitgliedstaat, wenn er eine Rückkehrentscheidung gegen einen unbegleiteten Minderjährigen zu erlassen beabsichtigt, ihn zwingend zu den Bedingungen anhören muss, unter denen er im Rückkehrstaat aufgenommen werden könnte. [...]

82 Folglich ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass ein Mitgliedstaat, nachdem er gegenüber einem unbegleiteten Minderjährigen eine Rückkehrentscheidung erlassen und sich gemäß Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie vergewissert hat, dass er einem Mitglied seiner Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben wird, anschließend davon absieht, ihn abzuschieben, bis er das Alter von 18 Jahren erreicht. [...]