LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 22.10.2020 - L 8 AY 21/17 - asyl.net: M29223
https://www.asyl.net/rsdb/m29223
Leitsatz:

Übernahme von Fahrt- und Übernachtungskosten für die Anhörung beim Bundesamt:

Das Sozialamt hat Fahrt- und Übernachtungskosten für die Wahrnehmung der persönlichen Anhörung beim Bundesamt zu erstatten, wenn diese morgens in einer weit vom Wohnort entfernten Stadt (hier 550 km) stattfindet. Auch die Fahrt- und Übernachtungskosten einer weiteren Person können erstattet werden, wenn diese die Kinderbetreuung während der Anhörung übernimmt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Sozialrecht, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Asylverfahren, Anhörung, Fahrtkosten, Übernachtungskosten, atypische Bedarfslage, Sonderbedarf,
Normen: AsylbLG § 6 Abs. 1, AsylbLG § 2, SGB XII § 73 S. 1,
Auszüge:

[...]

Ein Anspruch auf Ersatz der geltend gemachten Kosten kommt nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylbLG, nach dem sonstige Leistungen insbesondere gewährt werden können, wenn sie im Einzelfall zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind, nicht in Betracht, weil sich der Anspruch der Kläger auf lebensunterhaltssichernde Leistungen zu dem Zeitpunkt, in dem die Reisekosten angefallen sind, also Anfang Juli 2016, nach § 2 Abs. 1 AsylbLG (hier in der ab 6.8.2016 geltenden Fassung vom 31.7.2016, BGBl. I 1939, im Weiteren a.F.) bemessen hat. Danach war abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm und der Bedeutung des Leistungsrechts nach §§ 3, 3a, 4 und 6 AsylbLG als eigenständiges Sicherungssystem zur Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - juris) können Leistungsberechtigte nach § 2 AsylbLG aus § 6 AsylbLG keine Rechte herleiten. [...]

Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG a.F. i.V.m. § 73 SGB XII können Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Leistungen nach dieser Vorschrift, die zu den "Hilfen in anderen Lebenslagen" nach dem Neunten Kapitel des SGB XII gehören, erfordern eine besondere, atypische Situation. Eine sonstige Lebenslage i.S. des § 73 Satz 1 SGB XII zeichnet sich dadurch aus, dass sie von keinem anderen Leistungsbereich des SGB XII erfasst ist und damit einen Sonderbedarf (atypische Bedarfslage) darstellt (BSG, Urteile vom 29.5.2019 - B 8 SO 8/17 - juris Rn. 14 m.w.N. und - B 8 SO 14/17 R - juris Rn. 11; BSG, Urteil vom vom 16.12.2010 - B 8 SO 7/09 R - juris Rn. 13 m.w.N.; BSG, Urteil vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 12/06 R - juris Rn. 24). [...]

Die formale Anhörung des Ausländers nach § 25 AsylG ist ein Kernstück des Asylverfahrens und beruht auf unionsrechtlichen Verfahrensgarantien (vgl. etwa Art. 13 Abs. 3 und 14 Abs. 1 und 2 der Richtlinie über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, RL 2005/85/EG; zur besonderen Bedeutung der persönlichen Anhörung durch die Asylbehörde ausführlich BVerwG, Urteil vom 11.7.2018 - 1 C 18/17 - juris Rn. 37; zur Anhörung im gerichtlichen Verfahren vgl. auch EuGH, Urteil vom 25.7.2018 - C-585/16, Alheto - Rn. 114 ff.). Ein unentschuldigtes Nichterscheinen zur Anhörung kann dazu führen, dass ein späteres Vorbringen des Ausländers unberücksichtigt bleibt (§ 25 Abs. 3 Satz 1 AsylG), sowie zu einer Entscheidung des BAMF über den Asylantrag nach Aktenlage, wobei auch die Nichtmitwirkung des Ausländers zu berücksichtigen ist (§ 25 Abs. 4 Satz 5 AsylG). Es kann sogar wegen Nichtbetreibens (§ 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG) zu einer Verfahrenseinstellung nach § 32 AsylG führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.4.2019 - 1 C 46.18 - juris und die Anmerkung zu dieser Entscheidung von Berlit, jurisPR-BVerwG 16/2019 Anm. 6).

Die Bedarfslage, die auf erforderliche Kosten für eine persönliche Anhörung im Asylverfahren zurückzuführen ist, ist grundsätzlich eine besondere, die bei typischen Empfängern von Grundsicherungsleistungen nicht in gleicher Weise auftritt. Nach ihrer Bedeutung ist sie vergleichbar mit der im Hinblick auf das Gebot effektiven und gleichen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) sowie das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) grund- und völkerrechtlich (Art. 6 EMRK) relevanten Gewährung von Reiseentschädigungen für mittellose Parteien zur Anreise zu Gerichtsterminen (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 12.2.2008 - 19 C 08.1 - juris Rn. 8 m.w.N.), die auf dem sog. Armenrecht und auf einer bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschrift der Landesjustizverwaltungen beruht (vgl. hierzu und zum Ganzen Tiedemann, jurisPR-ArbR 47/2019 Anm. 6 m.w.N.). Nach der Verwaltungsvorschrift über die Gewährung von Reiseentschädigungen (VwV Reiseentschädigung, zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 20.1.2014, BAnz AT 29.1.2014 B1; in Niedersachsen und für Verfahren vor dem LSG Niedersachsen-Bremen in Kraft getreten am 1.7.2006 durch AV d. MJ v. 26.5.2006 - 5110 - 204. 26 - Nds. Rpfl. 2006, 177, zuletzt geändert durch Verwaltungsvorschrift vom 28.1.2014, Nds. Rpfl. 2014, 88) ist eine nach pflichtgemäßem Ermessen zu gewährende Entschädigung so zu bemessen, dass sie die notwendigen Kosten der Hin- und Rückreise deckt (Nr. 1.1.2 VwV Reiseentschädigung). Danach gehören zu den Reisekosten entsprechend den Vorschriften des JVEG neben den Fahrtkosten gegebenenfalls auch Übernachtungskosten (entsprechend § 6 Abs. 2 JVEG), ferner gegebenenfalls Reisekosten für eine notwendige Begleitperson sowie Kosten für eine notwendige Vertretung (entsprechend § 7 Abs. 1 Satz 2 JVEG). [...]

Ob etwas anderes gilt, wenn in diesem Zusammenhang wegen der Wohnortnähe zu einer Außenstelle des BAMF verhältnismäßig geringe Reisekosten anfallen und es dem Betroffenen im Einzelfall zuzumuten ist, diese Kosten aus eigenen Mitteln, sprich aus dem Regelsatz (für Verkehrsdienstleistungen nach Abteilung 7 der EVS, s.o.), zu bestreiten (vgl. Nr. 1 VwV Reiseentschädigung), kann offen bleiben. Ein solcher Fall liegt hier wegen der Höhe der Kosten von fast 200,00 EUR (dazu später) auch unter Berücksichtigung der Erwerbstätigkeit der Klägerin nicht vor. [...]