EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 20.01.2021 - C-255/19 OA gg. Vereinigtes Königreich - asyl.net: M29227
https://www.asyl.net/rsdb/m29227
Leitsatz:

Soziale und finanzielle Unterstützung durch Private bei Beurteilung staatlichen Schutzes irrelevant:

1. Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG erlischt die Flüchtlingseigenschaft, wenn die betroffene Person den Schutz des Herkunftsstaats in Anspruch nehmen kann, nachdem die Verfolgung begründenden Umstände weggefallen sind. Für den Begriff des Schutzes gilt hinsichtlich der Prüfung des Erlöschens und der Prüfung der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft die gleiche Auslegung.

2. Für die Beurteilung der Verfügbarkeit und Wirksamkeit des staatlichen Schutzes ist eine etwaige soziale und finanzielle Unterstützung seitens privater Akteure wie der Familie oder des Clans irrelevant.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Flüchtlingseigenschaft, Erlöschen, interner Schutz, Änderung der Sachlage, Wegfall der Umstände, Widerruf, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft, Genfer Flüchtlingskonvention, private Akteure, Somalia, OA, Vereinigtes Königreich,
Normen: RL 2004/83/EU Art. 11 Abs. 1 Bst. 3, RL 2004/83/EU Art. 7 Abs. 1 Bst. a, RL 2004/83/EU Art. 2 Bst. c,
Auszüge:

[...]

34 Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr Flüchtling, wenn er es nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. [...]

38 Um zu dem Schluss zu gelangen, dass die Furcht des betroffenen Flüchtlings vor Verfolgung nicht mehr begründet ist, müssen sich die zuständigen Behörden im Licht des Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 im Hinblick auf die individuelle Lage dieses Flüchtlings vergewissern, dass der oder die betreffenden Schutz bietenden Akteure im Sinne des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie geeignete Schritte eingeleitet haben, um die Verfolgung zu verhindern, dass diesen Akteuren demgemäß u.a. wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, zur Verfügung stehen und dass der betreffende Staatsangehörige im Fall des Erlöschens seiner Flüchtlingseigenschaft Zugang zu diesem Schutz haben wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u.a., C-175/08, C-176/08, C-178/08 und C-179/08, EU:C:2010:105, Rn. 70 und 74). [...]

Zu den Fragen 1 bis 3

40 Mit seinen zusammen zu prüfenden Fragen 1 bis 3 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 11 Abs. 1 Buchst. e in Verbindung mit Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen ist, dass eine etwaige soziale und finanzielle Unterstützung seitens privater Akteure wie der Familie oder des Clans des betreffenden Drittstaatsangehörigen den sich aus diesen Bestimmungen ergebenden Schutzanforderungen genügt und ob eine solche Unterstützung relevant ist, wenn es darum geht, die Wirksamkeit oder die Verfügbarkeit des vom Staat gebotenen Schutzes im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie zu beurteilen, oder darum, nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e in Verbindung mit Art. 2 Buchst. c der Richtlinie das Fortbestehen einer begründeten Furcht vor Verfolgung festzustellen.

41 Insoweit ist als Erstes zu prüfen, ob bei einer sozialen und finanziellen Unterstützung seitens privater Akteure wie der Familie oder des Clans des betreffenden Drittstaatsangehörigen davon ausgegangen werden kann, dass sie den Schutzanforderungen aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e in Verbindung mit Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 genügt.

42 Nach Art. 2 Buchst. c dieser Richtlinie muss der Drittstaatsangehörige aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände eine begründete Furcht vor einer Verfolgung haben, die sich aus zumindest einem der fünf in dieser Bestimmung aufgezählten Gründe gegen seine Person richtet. Diese Umstände belegen, dass das Drittland seinen Staatsangehörigen nicht vor Verfolgungshandlungen schützt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a., C-175/08, C-176/08, C-178/08 und C-179/08, EU:C:2010:105, Rn. 56 und 57). [...]

45 Art. 9 der Richtlinie 2004/83, der die Merkmale definiert, anhand deren Handlungen als Verfolgung eingestuft werden können, stellt in seinem Abs. 1 klar, dass die maßgeblichen Ereignisse aufgrund ihrer Art oder Wiederholung "so gravierend" sein müssen, dass sie eine "schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen", oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen müssen, die "so gravierend" ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise wie durch eine "schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte" betroffen ist. Nach Art. 9 Abs. 3 dieser Richtlinie muss außerdem eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 der Richtlinie genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen bestehen.

46 Eine bloße soziale und finanzielle Unterstützung des betreffenden Drittstaatsangehörigen wie diejenige, auf die im Vorabentscheidungsersuchen abgestellt wird, ist aber als solche weder zur Verhinderung von Verfolgungshandlungen noch zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung solcher Handlungen geeignet, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie den von Art. 11 Abs. 1 Buchst. e in Verbindung mit Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 geforderten Schutz gewährleistet. Dem ist insbesondere so, da die genannte soziale und finanzielle Unterstützung im vorliegenden Fall offenbar nicht gewährleisten soll, dass OA vor solchen Handlungen geschützt wird, sondern dass er in Mogadischu wieder Fuß fassen kann.

47 Unter diesen Umständen kann in einer sozialen und finanziellen Unterstützung wie derjenigen, auf die im Vorabentscheidungsersuchen abgestellt wird und die von der Familie oder dem Clan des betreffenden Drittstaatsangehörigen gewährleistet wird, kein Schutz vor Verfolgungshandlungen im Sinne dieser Bestimmungen gesehen werden.

48 Daraus folgt als Zweites, dass eine solche soziale und finanzielle Unterstützung für die Beurteilung der Wirksamkeit oder der Verfügbarkeit des vom Staat gebotenen Schutzes im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83 nicht relevant ist.

49 Dies gilt umso mehr, als bloße wirtschaftliche Schwierigkeiten grundsätzlich nicht unter den Verfolgungsbegriff im Sinne von Art. 9 der Richtlinie 2004/83 fallen, so dass eine solche soziale und finanzielle Unterstützung, mit der derartigen Schwierigkeiten abgeholfen werden soll, grundsätzlich keinen Einfluss auf die Beurteilung haben dürfte, ob der staatliche Schutz vor Verfolgungshandlungen ausreichend ist. [...]

52 Soweit im Übrigen die Fragen des vorlegenden Gerichts dahin zu verstehen sein sollten, dass dieses Klärung begehrt, ob, sofern die Clans in Mogadischu gegebenenfalls über ihre soziale und finanzielle Unterstützung hinaus auch Schutz in Sachen Sicherheit bieten, ein solcher Schutz bei der Prüfung berücksichtigt werden kann, ob der vom Staat gewährleistete Schutz den Anforderungen genügt, die sich insbesondere aus Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 ergeben, ist daran zu erinnern, dass für die Feststellung, ob die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht mehr begründet ist, der oder die Schutz bietenden Akteure, im Hinblick auf welche zu beurteilen ist, ob tatsächlich eine Veränderung der Umstände im Herkunftsland eingetreten ist, gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. a und b dieser Richtlinie entweder der Staat selbst oder Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen sind, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Urteil vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a., C-175/08, C-176/08, C-178/08 und C-179/08, EU:C:2010:105, Rn. 74).

53 Gemäß den oben in den Rn. 38 und 43 bis 46 geschilderten Anforderungen kann aber jedenfalls ein solcher Schutz in Sachen Sicherheit bei der Prüfung, ob der Schutz seitens des Staates den sich insbesondere aus Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 ergebenden Anforderungen genügt, nicht berücksichtigt werden.

54 Als Drittes möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob dennoch das Vorliegen einer sozialen und finanziellen Unterstützung durch die Familie oder den Clan des betreffenden Drittstaatsangehörigen berücksichtigt werden kann, wenn es darum geht, nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e in Verbindung mit Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 das Fortbestehen einer begründeten Furcht vor Verfolgung festzustellen. Nach dieser von manchen Gerichten des Vereinigten Königreichs vertretenen Auslegung soll eine soziale und finanzielle Unterstützung seitens der Familie oder des Clans des betreffenden Drittstaatsangehörigen unabhängig von den Schutzanforderungen, die sich aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e in Verbindung mit Art. 7 Abs. 2 dieser Richtlinie ergeben, geeignet sein, eine solche Furcht auszuschließen. [...]

56 Insoweit ist festzustellen, dass die in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 genannten Voraussetzungen, die die Furcht vor Verfolgung und den Schutz betreffen, auf das Engste miteinander verbunden sind. Bei dem Schutz, auf den sich diese Bestimmung bezieht, handelt es sich nämlich, wie sich aus obiger Rn. 47 ergibt, um Schutz vor Verfolgungshandlungen. [...]

59 Um festzustellen, ob der betreffende Drittstaatsangehörige im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 begründete Furcht vor Verfolgung in seinem Herkunftsland hat, ist daher zu berücksichtigen, ob in diesem Drittland Schutz vor Verfolgungshandlungen besteht oder nicht.

60 Der Schutz vor Verfolgungshandlungen in einem Drittland lässt jedoch nur dann den Schluss zu, dass keine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne dieser Bestimmung besteht, wenn er den sich insbesondere aus Art. 7 Abs. 2 dieser Richtlinie ergebenden Anforderungen genügt.

61 Da nämlich die in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 genannten Voraussetzungen, die die Furcht vor Verfolgung und den Schutz vor Verfolgungshandlungen betreffen, wie sich aus obiger Rn. 56 ergibt, auf das Engste miteinander verbunden sind, können sie nicht anhand eines unterschiedlichen Schutzkriteriums geprüft werden, sondern sind im Hinblick auf die insbesondere in Art. 7 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Anforderungen zu beurteilen. [...]

63 Nach alledem ist auf die Fragen 1 bis 3 zu antworten, dass Art. 11 Abs. 1 Buchst. e in Verbindung mit Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen ist, dass eine etwaige soziale und finanzielle Unterstützung seitens privater Akteure wie der Familie oder des Clans des betreffenden  Drittstaatsangehörigen nicht den sich aus diesen Bestimmungen ergebenden Schutzanforderungen genügt und damit weder relevant ist, wenn es darum geht, die Wirksamkeit oder die Verfügbarkeit des vom Staat gebotenen Schutzes im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie zu beurteilen, noch, wenn es darum geht, nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e in Verbindung mit Art. 2 Buchst. c der Richtlinie das Fortbestehen einer begründeten Furcht vor Verfolgung festzustellen. [...]