EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 19.11.2020 - C-454/19, ZW gg. Deutschland - asyl.net: M29348
https://www.asyl.net/rsdb/m29348
Leitsatz:

Keine schärfere Bestrafung wegen Entziehung Minderjähriger bei Verbringung in einen anderen Mitgliedstaat:

Es ist mit Europarecht nicht vereinbar, wenn nationale Strafnormen eine Bestrafung für Eltern vorsehen, die ihr Kind in einen anderen Mitgliedstaat mitnehmen und mit ihm dort leben, obwohl im ersten Mitgliedstaat ein Pfleger (z.B. das Jugendamt) für das Kind bestellt wurde, wenn das gleiche Verhalten innerhalb des ersten Mitgliedstaates nur dann strafbar ist, wenn es durch Anwendung von Gewalt, Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List erfolgt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Unionsrecht, Kindesentziehung, Pfleger, Sorgerecht, ZW gg. Deutschland, Unionsbürgerrichtlinie, Aufenthaltsbestimmungsrecht, Jugendamt,
Normen: StGB § 235, AEUV Art. 21,
Auszüge:

[...]

31 Im vorliegenden Fall wird nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer den Eltern, einem Elternteil, dem Vormund oder dem Pfleger eine Person unter achtzehn Jahren mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List entzieht oder vorenthält; derselbe Strafrahmen gilt nach § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB für den, der ein Kind den Eltern, einem Elternteil, dem Vormund oder dem Pfleger im Ausland vorenthält, nachdem es dorthin verbracht worden ist oder es sich dorthin begeben hat.

32 Nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts ergibt sich u. a. aus § 235 StGB, dass der einfache Tatbestand, dass ein Elternteil sein Kind dem aufenthaltsbestimmungsberechtigten Pfleger vorenthält, nach § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB, wenn der Elternteil das Kind in einem anderen Mitgliedstaat der Union zurückhält, in gleicher Weise strafbar ist, wie wenn er das Kind in einem Drittstaat zurückhielte, ohne dass es dafür der Gewalt, der Drohung mit einem empfindlichen Übel oder der List bedürfte. Wird das Kind hingegen im deutschen Hoheitsgebiet zurückgehalten, ist der Tatbestand, dass ein Elternteil es dem Pfleger vorenthält, nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB nur bei Gewalt, Drohung mit einem empfindlichen Übel oder List strafbar.

33 § 235 StGB unterscheidet somit danach, ob das Kind von seinem Elternteil innerhalb des deutschen Hoheitsgebiets oder außerhalb davon, u.a. in einem anderen Mitgliedstaat der Union, zurückgehalten wird. Diese Unterscheidung beruht allein darauf, dass das Kind aus dem deutschen Hoheitsgebiet in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats der Union verbracht wird. {...]

35 Folglich begründet, wie der Generalanwalt in Nr. 27 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB eine Ungleichbehandlung, die die Freizügigkeit der Unionsbürger im Sinne von Art. 21 AEUV beeinträchtigen oder gar beschränken kann.

36 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann eine Beschränkung der Freizügigkeit der Unionsbürger, die – wie im Ausgangsverfahren – von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängig ist, gerechtfertigt sein, wenn sie auf objektiven Erwägungen des Allgemeininteresses beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit der fraglichen nationalen Regelung legitimerweise verfolgten Ziel steht. Eine Maßnahme ist verhältnismäßig, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was dazu notwendig ist (Urteile vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C-673/16, EU:C:2018:385, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 25. Juli 2018, A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person], C-679/16, EU:C:2018:601, Rn. 67).

37 Im vorliegenden Fall besteht ausweislich der Erläuterungen der deutschen Regierung in ihren beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen das Ziel der besonderen Strafbarkeit in § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB im Schutz der elterlichen Sorge und der Rechte des Kindes sowie in der Verhinderung und Bekämpfung internationaler Kindesentziehungen unter Berücksichtigung der praktischen Schwierigkeiten, die Rückführung eines im Ausland – auch in einem anderen Mitgliedstaat – zurückgehaltenen Kindes zu erreichen.

38 Insbesondere geht aus den Gesetzesmaterialien zu § 235 StGB, auf die die deutsche Regierung verweist, hervor, dass diese Strafbarkeit aufgrund der Schwierigkeiten eingeführt wurde, eine deutsche Gerichtsentscheidung über die Sorge für das Kind in einem anderen Staat durchzusetzen, sowie wegen der Schwere jeder internationalen Kindesentziehung, insbesondere, wenn das Kind in einen Staat eines anderen Kulturkreises verbracht wurde und wenn seine sofortige Rückführung nicht erreicht werden kann.

39 Diese Gründe stehen in einem inneren Zusammenhang mit dem Schutz des Kindes und seiner Grundrechte. [...]

44 Eine solche Strafbarkeit darf jedoch nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des mit ihr verfolgten legitimen Ziels erforderlich ist. [...]

50 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 21 AEUV dahin auszulegen ist, dass er der Anwendung einer Gesetzesbestimmung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der es, wenn ein Elternteil sein Kind dem bestellten Pfleger in einem anderen Mitgliedstaat vorenthält, selbst dann einen Straftatbestand darstellt, wenn dies nicht mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht, während ein entsprechendes Vorenthalten, wenn sich das Kind im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats befindet, nur dann strafbar ist, wenn es mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht. [...]