OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 12.03.2021 - 2 B 360/20 - asyl.net: M29440
https://www.asyl.net/rsdb/m29440
Leitsatz:

Anspruch auf Duldungsbescheinigung bei Aussetzung der Vollziehung der Dublin-Überstellung durch das BAMF:

"1. Hat das Bundesamt die Ausländerbehörde angewiesen, eine bestandskräftige Abschiebungsanordnung (§ 34a AsylG) vorläufig nicht zu vollziehen, hat die Ausländerbehörde dem Ausländer eine Duldungsbescheinigung (§ 60a Abs. 4 AufenthG) auszustellen.

2. Erklärt das Bundesamt, die Vollziehung einer bestandskräftigen Abschiebungsanordnung "gemäß § 80 Abs. 4 VwGO" wegen der Corona-Pandemie aussetzen zu wollen, handelt es sich der Sache nach um eine Anweisung an die Ausländerbehörde, die Abschiebungsanordnung vorläufig nicht zu vollziehen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebungsanordnung, Aussetzung der Vollziehung, Duldung, Rücknahme, Widerruf, Zuständigkeit, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Duldungsbescheinigung, Corona-Virus, Dublinverfahren,
Normen: AsylG § 34a, AufenthG § 60a Abs. 4, VwGO § 80 Abs. 4, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

a) Zwar besteht nach Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG durch das Bundesamt keine eigene Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde für die Erteilung einer Duldung, weil das Bundesamt im Rahmen der Abschiebungsanordnung sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen hat (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.09.2014 – 2 BvR 1795/14, juris Rn. 9; BayVGH, Beschl. v. 12.03.2014 – 10 CE 14.427, juris Rn. 4; OVG SL, Beschl. v. 25.04.2014 – 2 B 215/14, juris Rn. 7; Nds. OVG, Beschl. v. 02.05.2012 – 13 MC 22/12, juris Rn. 27; OVG NW, Beschl. v. 30.08.2011 – 18 B 1060/11, juris Rn. 4; VGH BW, Beschl. v. 31.05.2011 – A 11 S 1523/11, juris Rn. 4). Dies gilt nicht nur hinsichtlich bereits bei Erlass der Abschiebungsanordnung vorliegender, sondern auch bei nachträglich auftretenden Abschiebungshindernissen und Duldungsgründen. Gegebenenfalls hat das Bundesamt die Abschiebungsanordnung aufzuheben oder die Ausländerbehörde anzuweisen, von der Vollziehung der Abschiebungsanordnung abzusehen (BVerfG, Beschl. v. 17.09.2014 – 2 BvR 1795/14, juris Rn. 10; BayVGH, Beschl. v. 12.03.2014 – 10 CE 14.427, juris Rn. 4; OVG SL, Beschl. v. 25.04.2014 – 2 B 215/14, juris Rn. 7; OVG NW, Beschl. v. 30.08.2011 – 18 B 1060/11, juris Rn. 4).

b) Das Schreiben des Bundesamtes an das Regierungspräsidium Gießen vom 15.05.2020, in dem wegen der Corona-Pandemie wörtlich "die Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO ausgesetzt" wurde, ist bei sachgerechter Auslegung als eine Anweisung an die (nach Auffassung des Bundesamtes zuständige) Ausländerbehörde zu verstehen, von der Vollziehung der Abschiebungsanordnung wegen eines nachträglich eingetretenen Vollstreckungshindernisses abzusehen. Die bei wörtlichem Verständnis verfügte Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO war vorliegend nicht möglich. Mindestvoraussetzung einer behördlichen Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO ist, dass der Antragsteller einen Rechtsbehelf gegen die Abschiebungsanordnung eingelegt hat (BVerwG, Urt. v. 09.01.2019 – 1 C 36/18, juris Rn. 14). Dies hat der Antragsteller indes nicht getan; die Abschiebungsanordnung ist und war auch schon am 15.05.2020 bestandskräftig. Die Schreiben des Bundesamtes brachten jedoch deutlich zum Ausdruck, dass die Ausländerbehörde den Antragsteller vorläufig nicht in Vollziehung der Abschiebungsanordnung abschieben sollte. In dem Schreiben an den Antragsteller bezieht sich das Bundesamt sogar ausdrücklich auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 17.09.2014 – 2 BvR 1795/14 – und die ihm dort für den Fall des nachträglichen Auftretens von Abschiebungshindernissen oder Duldungsgründen auferlegten Pflichten.

c) Die ausschließliche Kompetenz des Bundesamtes für die Entscheidung über das Vorliegen von Duldungsgründen nach dem Erlass einer Abschiebungsanordnung sagt indes nichts darüber aus, ob die Ausländerbehörde dem Ausländer eine Duldungsbescheinigung nach § 60a Abs. 4 AufenthG ausstellen muss, wenn das Bundesamt einen nachträglich eingetretenen Duldungsgrund bejaht und die Ausländerbehörde deshalb angewiesen hat, die Abschiebungsanordnung (vorläufig) nicht zu vollziehen (vgl. auch Nds. OVG, Beschl. v. 20.06.2017 – 13 PA 104/17, juris Rn. 16; VG Karlsruhe, Beschl. v. 19.05.2014 – A 9 K 3615/13, juris Rn. 4; Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, § 34a Rn. 19). Für die Ausstellung einer Duldungsbescheinigung besteht ein Bedürfnis, wenn – wie im vorliegenden Fall – Unzulässigkeitsentscheidung und Abschiebungsanordnung des Bundesamtes bereits bestandskräftig sind und die Aufenthaltsgestattung des Betroffenen daher endgültig erloschen ist (§ 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AsylG). Eine Möglichkeit, den Aufenthaltsstatus des Ausländers in einem solchen Fall für den Zeitraum, in dem die Abschiebungsanordnung nicht vollzogen werden darf, zu regeln, stellt das Asylgesetz dem Bundesamt nicht zur Verfügung. Die Systematik des deutschen Ausländerrechts lässt jedoch grundsätzlich keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt. Nach der gesetzlichen Konzeption ist ein Ausländer, dem kein Aufenthaltsrecht zusteht, entweder abzuschieben oder ihm ist eine Duldung zu erteilen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 06.03.2003 – 2 BvR 397/02, juris Rn. 37, noch zum AuslG). Eine stillschweigende "faktische" Aussetzung der Abschiebung anstelle der förmlichen, durch eine Bescheinigung nach § 60a Abs. 4 AufenthG dokumentierten Duldung ist nicht zulässig (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.03.2014 – 5 C 13/13, juris Rn. 15, 20). Im Hinblick auf die Strafvorschrift des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG und das Bedürfnis, z.B. bei Polizeikontrollen ein Dokument vorlegen zu können, ist es dem Ausländer nicht zumutbar, sich während des Zeitraums, für den das Bundesamt die Ausländerbehörde angewiesen hat, die Abschiebungsanordnung nicht zu vollziehen, ohne eine behördliche Bescheinigung zu seinem Aufenthaltsstatus in Deutschland aufhalten zu müssen (vgl. auch OVG Bremen, Beschl. v. 24.06.2020 – 2 PA 99/20, juris Rn. 6). Daher hat ihm die Ausländerbehörde eine Duldungsbescheinigung auszustellen, wenn es sich nicht nur um eine ganz geringfügige zeitliche Verzögerung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung handelt.

d) Mit Schreiben vom 04.08.2020 an den Antragsteller und vom 07.09.2020 an das Regierungspräsidium Gießen hat das Bundesamt jedoch die Anweisung, die Abschiebungsanordnung vorläufig nicht zu vollziehen, widerrufen. Zu einer inhaltlichen Überprüfung der Entscheidung des Bundesamtes, dass einer Abschiebung nach Italien keine rechtlichen oder tatsächlichen Hindernisse mehr entgegenstehen, ist die Ausländerbehörde – wie oben unter a) ausgeführt – nicht befugt. Die Ausstellung einer Duldungsbescheinigung kommt daher derzeit nicht in Betracht. Seine Argumente gegen eine Abschiebung hat der Antragsteller in einem verwaltungsgerichtlichen (Eil-)Verfahren gegen das Bundesamt, gerichtet auf dessen Verpflichtung zur Aufhebung der Abschiebungsanordnung bzw. zur erneuten Anweisung an die Ausländerbehörde, diese vorläufig nicht zu vollziehen, vorzubringen. [...]