LSG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.02.2021 - L 25 AS 43/21 - asyl.net: M29460
https://www.asyl.net/rsdb/m29460
Leitsatz:

Merkmale zur Bestimmung der Arbeitnehmereigenschaft:

"1. Zur Prüfung der Frage, ob der Betroffene Arbeitnehmer ist, sind bei der Gesamtbewertung des Arbeits­verhältnisses nicht nur Gesichtspunkte wie die Arbeitszeit und die Höhe der Vergütung zu berücksichtigen, sondern auch solche wie der Anspruch auf bezahlten Urlaub, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung auf den Arbeitsvertrag sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses (Rn.15).

2. Starre Lohn- und Arbeitszeitstunden können für die Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft nicht herangezogen werden. Die Annahme, die Grenze der Unwesentlichkeit sei bei einer Wochenarbeitszeit von sechs Stunden erreicht, findet demnach in der höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Stütze und sie erscheint auch nicht sachgerecht (Rn.16)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: EU-Staatsangehörige, Sozialrecht, Leistungsausschluss, SGB II, Arbeitnehmerbegriff, Wanderarbeitnehmer, geringfügige Beschäftigung,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

15 Die Klägerin ist in der Gesamtschau aller Umstände im vorliegenden Einzelfall Arbeitnehmerin im streitigen Zeitraum gewesen. Dabei darf der Begriff des Arbeitnehmers nicht eng ausgelegt werden (vgl. zu Folgendem Europäischer Gerichtshof <EuGH>, Urteil vom 4. Februar 2010 - C-14/09 Hava Genc/Land Berlin - NVwZ 2010, 367). Als "Arbeitnehmer" ist jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach der Rechtsprechung des EuGH darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Weder die begrenzte Höhe der Vergütung noch die Herkunft der Mittel für diese Vergütung oder der Umstand, dass der Betreffende die Vergütung durch andere Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts wie eine aus öffentlichen Mitteln des Wohnmitgliedstaats gezahlte finanzielle Unterstützung zu ergänzen sucht, kann irgendeine Auswirkung auf die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Unionsrechts haben. Die Tatsache, dass das Einkommen des Arbeitnehmers nicht seinen ganzen Lebensunterhalt deckt, nimmt ihm nicht die Eigenschaft eines Erwerbstätigen. Der Umstand, dass die Bezahlung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis unter dem Existenzminimum liegt oder die normale Arbeitszeit selbst zehn Stunden pro Woche nicht übersteigt, hindert nicht daran, die Person, die diese Tätigkeit ausübt, als Arbeitnehmer anzusehen. Zwar kann der Umstand, dass im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden geleistet werden, ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübten Tätigkeiten nur untergeordnet und unwesentlich sind, doch lässt es sich unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit nicht ausschließen, dass die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses von den nationalen Stellen als tatsächlich und echt angesehen werden kann und es somit ermöglicht, dem Beschäftigten die Arbeitnehmereigenschaft zuzuerkennen. Bei der Gesamtbewertung des Arbeitsverhältnisses sind nicht nur Gesichtspunkte wie die Arbeitszeit und die Höhe der Vergütung zu berücksichtigen, sondern auch solche wie der Anspruch auf bezahlten Urlaub, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung auf den Arbeitsvertrag sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses.

16 Vorstehende Ausführungen erhellen, dass starre Lohn- und Arbeitszeitstunden für die Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft nicht herangezogen werden können. Die Annahme, die Grenze der Unwesentlichkeit sei bei einer Wochenarbeitszeit von sechs Stunden erreicht (Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 2 FreizügG/EU, Rn. 49), findet demnach in der höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Stütze und sie erscheint auch nicht sachgerecht (warum sechs Stunden und nicht fünf oder sieben?). [...]