VG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
VG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 01.03.2021 - 10 L 31/21.A - asyl.net: M29488
https://www.asyl.net/rsdb/m29488
Leitsatz:

Entscheidungserheblicher Zeitpunkt bei der Frage, ob ein unzulässiger Zweitantrag vorliegt:

1. Für die Frage, ob das Asylverfahren im anderen Mitgliedstaat erfolglos abgeschlossen ist, kommt es auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland an - nicht auf den Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs.

2. Wiedereinsetzung ist zu gewähren, wenn das Verschulden der beauftragten Hilfsperson (hier Sozialarbeiterin) der betroffenen Person nicht zuzurechnen ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Zweitantrag, Zulässigkeit, Unzulässigkeit, Frankreich, Beurteilungszeitpunkt,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 71a,
Auszüge:

[...]

11 Zwar hat der Antragsteller ausweislich der vorliegenden französischen Asylunterlagen am 19. Dezember 2016 in Frankreich internationalen Schutz beantragt und wurde dieser Antrag durch die französische Asylbehörde (OFPRA) mit Bescheid vom 16. Juni 2017 zurückgewiesen; auch hat der Kläger hiergegen beim französischen Asylgerichtshof (CNDA) am 19. Juli 2017 Klage erhoben, die mit Urteil vom 8. November 2017 abgewiesen worden war. Freilich stand dem Antragsteller gegen das genannte Urteil eine zweimonatige Frist zur Beantragung einer Revision beim Conseil d´Etat zu, ohne dass den vorliegenden Unterlagen zu entnehmen ist, wann das Gerichtsurteil dem Antragsteller zugestellt worden war. Da das Urteil des CNDA am 29. November 2017 verkündet wurde, konnte die Revisionsfrist jedenfalls nicht vor dem 29. Januar 2018 abgelaufen sein. [...]

13 Nach allem ist jedenfalls für Eilrechtsschutzzwecke davon auszugehen, dass dem Antragsteller im Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland noch ein Rechtsbehelf gegen die ablehnende OFPRA-Entscheidung an den Conseil d´Etat zustand. Der Conseil d’ Etat hat keine unmittelbare Entsprechung im deutschen Rechtssystem. Einerseits stellt er kein ordentliches Rechtsmittelgericht dar (vgl. www.conseil-etat.fr/demarches-services/les-fiches-pratiques-de-la-justice-administrative/introduire-unerequete-devant-le-conseil-d-etat, letzter Abruf 26. Februar 2021), andererseits unterscheidet sich sein Prüfprogramm nicht wesentlich von dem anderer Rechtsmittelgerichte (siehe die Ausführungen auf der Seite des CNDA, www.cnda.fr/Demarches-et-procedures/Voies-de-recours-contre-les-decisions-de-la-CNDA/Devant-le-Conseil-d-Etat; zur französischen Rechtslage siehe Art. L. 721-1 ff. des Code de l'entrée et du séjour des étrangers et du droit d'asile, abrufbar unter www.legifrance.gouv.fr/codes/texte_lc/LEGITEXT000006070158/, jeweils letzter Abruf 26. Februar 2021). Die Klärung der Frage, ob mit der ablehnenden Entscheidung des CNDA das Asylverfahren unanfechtbar abgeschlossen ist (dagegen wohl VG Potsdam, Beschluss vom 16. November 2017 - VG 6 L 1374/17.A - juris Rn. 9) oder ob vom Vorliegen eines - hier noch zulässigen - Rechtsmittels ausgegangen werden muss, bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

14 Die angegebene Frist von zwei Monaten für ein Rechtsmittel des Antragstellers gegen das abweisende Urteil des CNDA war zum Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland am 29. Januar 2018 noch nicht abgelaufen.

15 Zwar ist nach einer teilweise vertretenen Auffassung für die Frage des Zeitpunkts des erfolglosen Abschlusses eines in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführten Asylverfahrens auf den Zeitpunkt des Übergangs der Zuständigkeit für das Asylverfahren auf die Bundesrepublik Deutschland nach Maßgabe der Regelungen der Dublin-III-Verordnung abzustellen. Im vorliegenden Fall dürfte die Zuständigkeit für das Asylverfahren mit Ablauf des 2. September 2018 auf Deutschland übergegangen sein, nämlich sechs Monate nach der ablehnenden Entscheidung des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom 2. März 2018 gegen den zunächst ergangenen - unter dem 25. September 2018 wieder aufgehobenen - sog. Dublin-Bescheid des Bundesamts vom 5. Februar 2018, mit dem u.a. die Abschiebung des Antragstellers nach Frankreich wegen dessen internationaler Zuständigkeit angeordnet worden war (vgl. Art. 29 Abs. 2 Satz 1, Abs.1 Dublin-III-VO). Für eine solche Auslegung des § 71a Abs. 1 AsylG scheint dessen Zweck zu sprechen, nämlich die Beschleunigung des Asylverfahrens, wenn ein Antragsteller bereits in einem anderen sicheren Drittstaat ein Asylverfahren durchlaufen hat (für diese Auffassung vgl. VG Hannover, Beschluss vom 7. Februar 2019 - 3 B 217/19 - juris Rn. 33). Befürworter dieser Ansicht führen zudem den Vorrang der Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, der zum Handlungsregime der Dublin-III-Verordnung zählt, vor § 71a i. V. m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG an (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 3. November 2020 - 1 LB 28/20 - juris Rn. 33 ff.), verhalten sich indes nicht dazu, dass das Bundesamt bei Scheitern des Dublin-Verfahrens den (ursprünglich in Deutschland gestellten) Asylantrag weiter zu prüfen hat.

16 Nach der Gegenauffassung ist jedoch auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland und nicht erst auf einen etwaigen späteren Zuständigkeitsübergang abzustellen, was mit dem klaren Wortlaut des § 71a Abs. 1 AsylG begründet wird. Neben dem insofern bereits unmissverständlichen ersten Halbsatz von § 71a Abs. 1 AsylG ("Stellt der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens … im Bundesgebiet einen Asylantrag…") spricht dafür die im Folgenden genannte - zusätzliche - Voraussetzung, wonach ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen ist, wenn u.a. die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Diese weitere Voraussetzung wäre überflüssig, wenn für die Beurteilung, ob ein erfolgloser Abschluss in einem anderen Mitgliedstaat im Sinne der Vorschrift gegeben ist, erst auf den Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs abzustellen wäre (vgl. VG Frankfurt [Oder], Beschluss vom 13. Februar 2017 - VG 6 L 665/17.A - juris Rn. 6; für diese Ansicht auch VG Augsburg, Beschluss vom 9. Juli 2018 - Au 4 S 18.31170 - juris Rn. 10). Der Wortlaut der Norm differenziert also ausdrücklich zwischen den Voraussetzungen für das Vorliegen eines Zweitantrags und den sonstigen Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Dickten, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 27. Ed., 1. Oktober 2020, § 71a AsylG Rn. 4).

17 Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 14. Dezember 2016 (- 1 C 4.16 - juris Rn. 40) die Frage offen gelassen. Den Entscheidungsgründen lässt sich allerdings entnehmen, dass § 71a AsylG als überwiegend nationale Vorschrift angesehen wird. Vor dem Hintergrund von Art. 40 und Art. 2 Buchstabe q der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes vom 26. Juni 2013 (Asylverfahrensrichtlinie) ist von einer "Kann-Regelung" auszugehen, die unionsrechtlich nicht determiniert ist (ähnlich auch BVerwG, Urteil vom 17. November 2020 - 1 C 8.19 - juris Rn. 17 ff. zum Familienasyl nach § 26 AsylG). Bei unionsrechtlich nicht zwingenden Vorschriften können die deutschen Auslegungsregeln zur Anwendung kommen, deren Ausgangspunkt der Wortlaut der Norm ist.

18 Der Linie der Kammer entsprechend wird der letztgenannten Auffassung gefolgt. Danach ist im Fall des Antragstellers für die Frage, ob ein Zweitantrag vorliegt, auf die am 29. Januar 2018 erfolgte Asylantragstellung in Deutschland als maßgeblichen Zeitpunkt abzustellen; an diesem Stichtag dürfte das Asylverfahren in Frankreich noch nicht erfolglos abgeschlossen gewesen sein. [...]