VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Urteil vom 03.03.2021 - 8 K 1267/20.A - asyl.net: M29496
https://www.asyl.net/rsdb/m29496
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für einen jungen, erwerbsfähigen Mann aus Afghanistan:

1. Auch vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie ist davon auszugehen, dass alleinstehende, erwerbsfähige Männer in Afghanistan dazu in der Lage sind, zumindest ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen (im Anschluss an VGH Bayern, Urteil vom 01.10.2020 - 13a B 20.31004 - asyl.net: M29212).

2. Hiervon sind im Einzelfall Ausnahmen zu machen. Ein gerade volljährig gewordener Mann ohne Schulabschluss, Berufserfahrung und Unterstützung durch Familienangehörige wird sich derzeit in Afghanistan keine Existenzgrundlage schaffen können.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, Existenzminimum, Corona-Virus, Netzwerk, Familienangehörige,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

b) Die allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan sind geprägt von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation und Versorgungslage, von prekären humanitären Gegebenheiten sowie von einer volatilen Sicherheitslage (vgl. hierzu ausführlich SächsOVG, Urt. v. 18. März 2019 - 1 A 198/18.A -, juris Rn. 46 ff.), verschärft durch die Corona-Pandemie.

Diese allgemeine Lage, insbesondere auch die für Rückkehrer und insbesondere auch unter Berücksichtigung der aktuellen Bemühungen sowohl der USA als auch der afghanischen Regierung um ein Friedensabkommen mit den Taliban (https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-05/afghanistan-us-taliban-abkommen-friedensprozess-waffenruhe vom Mai 2020 und www.tagesschau.de/ausland/afghanistan-auftakt-gespraeche-103.html vom 12. September 2020) führt aber auch derzeit nicht ohne weiteres dazu, dass eine Abschiebung zwingend eine Verletzung von Art. 3 EMRK nach sich ziehen würde und jeder Rückkehrer generell in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung nach Afghanistan erleiden müsste. Es ist nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, die das Gericht teilt und sich zu eigen macht, weiterhin davon auszugehen, dass ein alleinstehender und arbeitsfähiger Mann regelmäßig auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten etwa in Kabul, Herat oder Mazar e-Sharif ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Trotz großer Schwierigkeiten bestehen grundsätzlich auch für Rückkehrer durchaus Perspektiven im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts, insbesondere Rückkehrer aus dem Westen sind auf dem Arbeitsmarkt allein aufgrund ihrer Sprachkenntnisse in einer vergleichsweise guten Position. Auf ein stützendes Netzwerk in Afghanistan oder einen vorherigen Aufenthalt im Heimatland kommt es hierbei nicht an; ausreichend ist vielmehr, dass eine hinreichende Verständigung in einer der afghanischen Landessprachen möglich ist (BayVGH, Urt. v. 1. Oktober 2020 - 13a B 20.31004 -, juris Rn. 24 - 49 m. w. N.; Urt. v. 26. Oktober 2020 - 13a B 20.31087 -, juris; Beschl. v. 28. Oktober 2020 - 13a ZB 20.31934 -, juris und Beschl. v. 17. Dezember 2020 - 13a B 20.30957 -; a. A. VGH Mannheim, Urt. v. 17. Dezember 2020 - A 11 S 2042/20 -, juris: nach der neueren, von der frühere Rechtsprechung abweichenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg sind angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK derzeit regelmäßig erfüllt, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Besondere begünstigende Umstände können insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt). Dies gilt insbesondere auch für Rückkehrer, die im Ausland aufgewachsen sind bzw. dort längere Zeit gelebt haben, soweit sie eine der afghanischen Landessprachen beherrschen (BayVGH, Beschl. v. 21. Dezember 2018 - 13a ZB 17.31203 -, juris Rn. 6 m.w.N. und fortgeführt durch Beschl. v. 6. Dezember 2019 - 13a ZB 19.34056 -, juris sowie Beschl. v. 17. Dezember 2020 - 13a B 20.30957 -). Können spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden, kann die Lage jedoch anders zu beurteilen sein (SächsOVG, Urt. v. 18. März 2019 - 1 A 198/18.A -, juris). Nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz und des Oberverwaltungsgerichts Bremen ergeben sich aus den seit März 2020 weiter erheblich verschlechterten humanitären Lebensbedingungen in Afghanistan auch für junge, alleinstehende und arbeitsfähige Rückkehrer höhere Anforderungen an die individuelle Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit, um ihre elementarsten Bedürfnisse an Nahrung und Obdach zu befriedigen. Ob eine solche Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit vorliegt, ist im Rahmen einer sorgfältigen Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls zu ermitteln, die nachteilige Faktoren, aber auch begünstigende Umstände des jeweils Betroffenen berücksichtigt (OVG Bremen, Urt. v. 24. November 2020 - 1 LB 351/20 -, juris; OVG Rh.-Pf., Urt. v. 30. November 2020 - 13 A 11421/19 -, juris).

c) Aufgrund der konkreten Umstände ist ein Abweichen von dieser regelmäßigen Annahme angezeigt. Der erst 18-jährige Kläger entspricht nach dem Eindruck der mündlichen Verhandlung nicht umfassend dem vorgenannten Bild des jungen, gesunden und leistungsfähigen Mannes. Der Kläger ist bereits nach seinem eher schmächtigen Äußeren noch nicht ein vollständig durchsetzungsfähiger Mann, sondern vielmehr als Jugendlicher anzusehen. Allein das formale Alter vermag das Gericht nicht von einer Durchsetzungsfähigkeit überzeugen. Es sind im Heimatland keine Bindungen anzunehmen, auf die er sich stützen könnte. Der einzige Verwandte, der Onkel mütterlicherseits, ist inzwischen verstorben. Zudem sind an den Kläger als Hazara aufgrund der innerafghanischen Konflikte höhere Anforderungen gestellt. Dem Kläger, der keine Berufserfahrung und keinen Schlussabschluss hat, dürfte es ohne soziales Netzwerk angesichts der momentan, wie dargestellt, sich verschlechterten wirtschaftlichen Situation nicht möglich sein, auch nur durch eine Tagelöhnerarbeit das zur Sicherung seiner Existenz Nötige zu erwirtschaften. In der Gesamtschau ist es daher beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger sich im umkämpften Arbeitsmarkt für Tagelöhner, anderes erscheint derzeit nicht in Frage zu kommen, nicht wird behaupten können. [...]