BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 11.12.2020 - 5 C 9.19 - asyl.net: M29530
https://www.asyl.net/rsdb/m29530
Leitsatz:

Für die Kostenbeteiligung an der Jugendhilfe ist auf die Vorjahreseinkünfte abzustellen:

"1. Für die Berechnung des Kostenbeitrags, den junge Menschen bei vollstationären Leistungen der Jugendhilfe einzusetzen haben, ist gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII das durchschnittliche Monatseinkommen des Vorjahres maßgeblich.

2. Der Jugendhilfeträger hat gemäß § 94 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob er von der Erhebung eines Kostenbeitrags ganz oder teilweise absieht, wenn das Einkommen aus einer Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen stammt, die dem Zweck der Jugendhilfeleistung dient."

(Amtliche Leitsätze; so auch VGH Bayern, Urteil vom 25.09.2019 - 12 BV 18.1274 - Asylmagazin 4/2020, S. 140 ff. - asyl.net: M28206)

Anmerkung:

Schlagwörter: Kostenbeitrag, Kostenbeteiligung, Werkstatt für behinderte Menschen, Vorjahreseinkommen, Jugendhilfe, Jugendhilfeeinrichtung, Einkommensermittlung, Zuflusstheorie, Ermessen, teleologische Reduktion, Auslegung,
Normen: SGB III § 94 Abs. 6 S. 1, SGB III § 94 Abs. 6 S. 2, SGB III § 94 Abs. 6 S. 3, SGB III § 93 Abs. 4 S. 1,
Auszüge:

[...]

8 [...] Das Oberverwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, dass für die Berechnung des Kostenbeitrags, den junge Menschen bei vollstationären Leistungen der Jugendhilfe einzusetzen haben, gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII das durchschnittliche Monatseinkommen des Vorjahres maßgeblich ist und dass der Jugendhilfeträger gemäß § 94 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hat, ob er von der Erhebung eines Kostenbeitrags ganz oder teilweise absieht, wenn das Einkommen aus einer Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen stammt, die dem Zweck der Jugendhilfeleistung dient. [...]

11 [...] Streit besteht zwischen den Beteiligten allein darüber, ob bei der Ermittlung des zugrunde zu legenden Einkommens § 93 Abs. 4 SGB VIII anzuwenden ist (1.) und ob der Beklagte verpflichtet war, von dem ihm in § 94 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII eingeräumten Ermessen Gebrauch zu machen (2.). Beides ist der Fall.

12 1. Das Oberverwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, dass bei der Berechnung
des Kostenbeitrags der Klägerin § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII anzuwenden ist. Danach ist das durchschnittliche Monatseinkommen maßgeblich, das die kostenbeitragspflichtige Person in dem Kalenderjahr erzielt hat, welches dem jeweiligen Kalenderjahr der Leistung vorangeht. § 93 Abs. 4 SGB VIII findet auch dann Anwendung, wenn sich der Umfang der Heranziehung wie im Fall der Klägerin nach § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII richtet, der bestimmt, dass u.a. junge Menschen bei vollstationären Leistungen nach Abzug der in § 93 Abs. 2 SGB VIII genannten Beträge 75 Prozent ihres Einkommens als Kostenbeitrag einzusetzen haben. Das folgt aus Wortlaut (a), Systematik (b) sowie Sinn und Zweck des § 93 Abs. 4 SGB VIII (c), die Voraussetzungen für eine teleologische Reduktion im Hinblick auf den vom Gesetzgeber mit § 93 Abs. 4 SGB VIII verfolgten Zweck liegen nicht vor (d).

13 a) Für die Geltung des § 93 Abs. 4 SGB VIII bei der Heranziehung junger Menschen spricht bereits der klare Wortlaut der Vorschrift. Dieser stellt auf das Monatseinkommen der "kostenbeitragspflichtigen Person" ab und erfasst damit uneingeschränkt alle kostenbeitragspflichtigen Personen, die nach § 92 Abs. 1 SGB VIII aus ihrem Einkommen heranzuziehen sind. Das sind gemäß § 92 Abs. 1 Nr. 1 und 2 i.V.m. § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII auch junge Menschen i.S.d. § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII.

14 b) Das Wortlautverständnis wird durch die systematische Stellung des Absatzes 4 innerhalb des § 93 SGB VIII sowie durch das Verhältnis von § 93 zu § 94 SGB VIII bestätigt (aa). § 94 Abs. 6 SGB VIII steht dem nicht entgegen (bb). [...]

22 c) Entgegen der Ansicht des Beklagten gebietet auch der Zweck des § 93 Abs. 4 SGB VIII kein anderes Verständnis. Mit der Einführung des § 93 Abs. 4 SGB VIII durch das Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetz im Jahr 2013 verfolgte der Gesetzgeber insbesondere die Zielsetzungen, den in der Praxis bestehenden Unsicherheiten über den für die Berechnung maßgeblichen Zeitraum zu begegnen und gleichzeitig im Interesse der Verwaltungsvereinfachung die Erhebung eines Kostenbeitrags zeitnah zur Leistung oder Maßnahme zu ermöglichen, um die kostentragungspflichtigen Kommunen in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Belastung zu entlasten (vgl. BT-Drs. 17/13023 S. 14 f.). Anlass für die Schaffung einer Berechnungsregelung, die auf das durchschnittliche Monatseinkommen des Jahres abstellt, das der Jugendhilfeleistung vorangeht, waren zwar die Schwierigkeiten bei der Heranziehung Selbstständiger, deren Tätigkeit häufig durch hohe Schwankungen im Umsatz gekennzeichnet ist. Die Regelung ist aber nicht auf Selbstständige beschränkt worden. Im Vordergrund standen vielmehr unabhängig von bestimmten Gruppen von Leistungspflichtigen die Verwaltungsvereinfachung und leistungsnahe Entlastung der Jugendhilfeträger als solche, für die der Gesetzgeber als mögliche Folge auch eine komplette Freistellung der Kostenbeitragspflichtigen in Kauf genommen hat. Sachliche Unterschiede, die eine unterschiedliche Behandlung bei der Heranziehung von Unterhaltspflichtigen einerseits und jungen Menschen andererseits zwingend gebieten würden, sind vor diesem Hintergrund nicht ersichtlich.

23 d) Dieses Auslegungsergebnis zu § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII ist nicht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung zu korrigieren. Deren Voraussetzungen liegen nicht vor.

24 Die Befugnis zur Korrektur des Wortlauts einer Vorschrift steht den Gerichten nur begrenzt zu. Sie ist u.a. dann gegeben, wenn die Beschränkung des Wortsinns einer gesetzlichen Regelung aufgrund des vom Gesetzgeber mit ihr verfolgten Regelungsziels geboten ist, die gesetzliche Regelung also nach ihrem Wortlaut Sachverhalte erfasst, die sie nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht erfassen soll. In einem solchen Fall ist eine zu weit gefasste Regelung im Wege der sogenannten teleologischen Reduktion auf den ihr nach Sinn und Zweck zugedachten Anwendungsbereich zurückzuführen. Ob eine planwidrige Gesetzeslücke als Voraussetzung einer teleologischen Reduktion vorliegt, ist nach dem Plan des Gesetzgebers zu beurteilen, der dem Gesetz zugrunde liegt (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 25. März 2014 - 5 C 13.13 - Buchholz 436.36 § 8 BAföG Nr. 14 Rn. 25, vom 23. April 2015 - 5 C 10.14 - BVerwGE 152, 60 Rn. 21 und vom 28. Februar 2019 - 5 C 1.18 - Buchholz 436.511 § 23 SGB VIII Nr. 4 Rn. 15).

25 Gemessen daran lässt sich schon nicht feststellen, dass die Regelung in § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII über die damit verfolgten Zwecke des Gesetzgebers hinausgeht. Es fehlt jeglicher Anhaltspunkt dafür, dass diese Berechnungsmodalitäten bei der Heranziehung junger Menschen keine Anwendung finden sollten und lediglich übersehen worden wäre, dass die Regelung alle Kostenbeitragspflichtigen erfasst. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass die damit bezweckte Verwaltungsvereinfachung in der Gruppe junger Menschen von vornherein nicht erreicht werden könnte oder dass die Anwendung des § 93 Abs. 4 SGB VIII dem Ziel der Jugendhilfe zuwiderlaufen würde, den jungen Menschen bei einer eigenverantwortlichen Lebensführung zu unterstützen. [...]

28 2. Das Oberverwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, dass die Kostenerhebung auch deshalb rechtswidrig ist, weil der Beklagte das ihm in § 94 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt hat. Danach kann ein geringerer Kostenbeitrag als nach § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII erhoben oder gänzlich von der Erhebung des Kostenbeitrags abgesehen werden, wenn das Einkommen aus einer Tätigkeit stammt, die dem Zweck der Leistung dient. Das ist hier der Fall. [...]

30 Der Tatbestand des § 94 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII ist nicht im Hinblick auf § 94 Abs. 6 Satz 3 SGB VIII einschränkend dahin auszulegen, dass das Ermessen nur bei Tätigkeiten im sozialen und kulturellen Bereich eröffnet wäre. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist eine enge Auslegung des § 94 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII nicht schon deshalb geboten, weil es sich um eine "Ausnahmeregelung" handeln würde. Dabei kann dahinstehen, ob § 94 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII als solche zu qualifizieren ist. Denn auch Ausnahmevorschriften sind nach den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen auszulegen und können je nach der ihnen innewohnenden Zweckrichtung einer einschränkenden oder ausdehnenden Auslegung zugänglich sein (stRspr, vgl. z.B. BVerwG, Urteile vom 7. November 1995 - 9 C 73.95 - BVerwGE 100, 23 <30>, vom 26. November 2003 - 9 C 4.03 - BVerwGE 119, 258 <260> und vom 16. März 2005 - 9 C 7.04 - BVerwGE 123, 132 <136 f.>).

31 Der Wortlaut des § 94 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII ist insofern offen, als er uneingeschränkt alle Tätigkeiten erfasst, die dem Zweck der Leistung dienen. Gemäß § 94 Abs. 6 Satz 3 SGB VIII gilt die Ermessensregelung des Satzes 2 allerdings insbesondere, wenn es sich um eine Tätigkeit im sozialen oder kulturellen Bereich handelt, bei der nicht die Erwerbstätigkeit, sondern das soziale oder kulturelle Engagement im Vordergrund stehen. Dem Beklagten ist einzuräumen, dass das Wort "insbesondere" üblicherweise vom Gesetzgeber verwendet wird, um Regelbeispiele einzuführen, die die Auslegung der Tatbestandsmerkmale steuern sollen, auf die sie sich beziehen (vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 29. August 2019 - 7 C 33.17 - Buchholz 422.1 Presserecht Nr. 21 Rn. 16). In § 94 Abs. 6 Satz 3 SGB VIII hat der Gesetzgeber jedoch keine derartigen Regelbeispiele festgelegt. Die dort genannten Beispiele haben keinen Leitbildcharakter. Das Wort "insbesondere" wird hier vielmehr im Sinne von "das ist stets dann der Fall, wenn" verwendet und nicht im Sinne einer Definition des Merkmals "Tätigkeiten, die dem Zweck der Leistung dienen" in § 94 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII. Wie sich aus der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 17/13023 S. 15) und den dort ausdrücklich angeführten Beispielen eindeutig ergibt, soll die Ermessensregelung nach dem Willen des Gesetzgebers für alle Fälle der Aufnahme  einer bezahlten Tätigkeit gelten, "in denen der junge Mensch Eigeninitiative ergreift und sich verantwortungsbewusst gegenüber seinem Leben und seiner Zukunft zeigt". Dies entspricht dem sich ebenfalls aus der Gesetzesbegründung ergebenden Zweck des § 94 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII, den rechtlichen Spielraum zum Absehen von einer Kostenbeteiligung im Einzelfall im Vergleich zur vorherigen Rechtslage zu erweitern und solche Kostenbeteiligungen auszuschließen, die im Widerspruch zum Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe stehen. Dass § 92 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII bereits eine Härtefallregelung vorsieht, steht dem nicht entgegen, weil der Gesetzgeber den Handlungsspielraum bei der Heranziehung junger Menschen in Kenntnis dieser Regelung erweitern, also gerade darüber hinausgehen wollte. [...]