SG Düsseldorf

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Zitieren als:
SG Düsseldorf, Beschluss vom 13.04.2021 - S 17 AY 21/20 (Asylmagazin 5/2021, S. 184 ff.) - asyl.net: M29541
https://www.asyl.net/rsdb/m29541
Leitsatz:

Vorlage an das BVerfG wegen niedrigerer Leistungen für Alleinstehende bei Gemeinschaftsunterbringung:

"1. Das Verfahren wird nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz ausgesetzt.

2. Dem Bundesverfassungsgericht wird die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG in der Fassung vom 15. August 2019 (BGBl. I 2019, S. 1290), soweit von der Norm auch alleinstehende Leistungsberechtigte erfasst sind, mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG und dem Allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist."

(Beschlusstenor des Gerichts; Verfahren beim BVerfG anhängig unter dem Az. 1 BvL 3/21e)

Anmerkung:

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Bedarfsstufe, Bedarfsgemeinschaft, Sozialrecht, alleinstehend, Gemeinschaftsunterkunft, Sozialstaatsprinzip, Existenzminimum, Gleichheitsgrundsatz, allgemeiner Gleichheitssatz, Bedarf, Regelleistung, Grundleistungen, Analogleistungen, Aufnahmeeinrichtung, Regelbedarf, Gemeinschaftsunterbringung, gemeinsames Wirtschaften, soziokulturelles Existenzminimum, Bargeldbedarf, Schicksalsgemeinschaft, Sammelunterkunft, Verfassungsmäßigkeit, Einspareffekt, Paarhaushalt, verfassungskonforme Auslegung, Auslegung, Leistungskürzung, Vorlage, Bundesverfassungsgericht, Zwangsverpartnerung,
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 a.F., AsylbLG § 3a Abs. 1 Nr. 2 Bst. b, AsylbLG § 3a Abs. 2 Nr. 2 Bst. b, GG Art. 1, GG Art. 20 Abs. 1, GG Art. 3 Abs. 1,
Auszüge:

 [...]

II. Unbegründetheit der Klage bei Gültigkeit der Normen

Bei Gültigkeit des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG ist die Klage teilweise unbegründet, während sie im Falle der Verfassungswidrigkeit des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr.1 AsylbLG weitestgehend, insbesondere hinsichtlich der Anwendung der Regelbedarfsstufe 1. begründet wäre. Denn hinsichtlich der dem Kläger im streitigen Leistungszeitraum zu erbringenden Leistungen ist § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG die anzuwendende bundesgesetzliche Norm, welche den Umfang der zu gewährenden Leistungen bestimmt (dazu 1.). Die gesetzlich vorgesehenen Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG in Verbindung mit §§ 28, 28a, 40 SGB XII und der Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnungen 2019 und 2020 wurden dem Kläger mit den angefochtenen Bescheiden teilweise gewährt (dazu 2). Die vom Kläger beantragten höheren Leistungen lassen sich nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG ,begründen (dazu 3). Der Kläger hat keinen Anspruch auf höhere Leistungen durch Anwendung des§ 15 AsylbLG (dazu 4). Ein Anspruch auf höhere Leistungen lässt sich auch nicht aus § 27a Abs. 4· S. 1 Nr. 2 SGB XII analog ableiten (dazu 5). Wäre§ 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG hingegen verfassungswidrig und nichtig oder jedenfalls unanwendbar, so hätte der Kläger einen Anspruch auf die begehrten Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 gemäß § 2 · Abs. 1 AsylbLG (dazu 6.). [...]

3. Keine Anwendung der Regelbedarfsstufe 1 durch verfassungskonforme Auslegung des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG

Es ist keine verfassungskonforme Auslegung des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG mög. lieh, die zur Anwendung der Regelbedarfsstufe 1 führt. In § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG kann kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des tatsächlichen gemeinsamen Wirtschaftens hineingelesen werden (dazu a)). Auch. eine teleologische Reduktion des Tatbestandes auf Wohnsituationen in denen ein gemeinsames Wirtschaften möglich und zumutbar ist, scheidet aus (dazu b)). Der Tatbestand ist auch nicht einschränkend dahingehend auszulegen, dass er lediglich bei nahen Familienangehörigen ein gemeinsames Wirtschaften vermutet (dazu c)). Eine unterlassene Belehrung über die Obliegenheit, gemeinsam zu wirtschaften, führt nicht zur Unanwendbarkeit der Norm (dazu d)). [...]

4. Kein Anspruch auf höhere Leistungen durch Anwendung des § 15 AsylbLG

Ein Anspruch des Klägers auf höhere Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 2 ergibt .sich auch nicht aus der Übergangsregelung des § 15 AsylbLG. Diese Übergangsregelung für Leistungsberechtigte, die zum 21. August 2019 bereits nach § 2 Abs. 1 AsylbLG leistungsberechtigt waren, bezieht sich ausschließlich auf die am 21. August 2019 durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht in Kraft getretene Verlängerung der Wartefrist von 15 auf 18 Monate. Die durch das durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes zum 01. September 2019 in Kraft getretene Anpassung der Regelbedarfsstufen in § 2 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG ist von der Übergangsregelung nicht erfasst (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. Februar 2020 - L 7 AY 4273/19 ER-B -, Rn. 14, juris; Oppermann in: jurisPK-SGB XII 3. Aufl., § 15 AsylbLG, Rn. 13; Oppermann/Filges in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 2 AsylbLG, Rn. 14). [...]

5: Kein Anspruch auf höhere Leistungen nach § 27a Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SGB XII

Dem Kläger stehen die für die Monate November 2019 bis Februar 2020 begehrten höheren Leistungen in Höhe der ungekürzten Regelbedarfsstufe 1 auch nicht in analoger Anwendung des § 27a Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SGB XII zu, denn es handelt sich bei den begehrten Leistungen nicht um laufende Bedarfe atypischer, überdurchschnittlicher Art. [...]

6. Anspruch auf die begehrten Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 bei Verfassungswidrigkeit des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG

Wäre § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG verfassungswidrig und nichtig oder jedenfalls unanwendbar, so wäre die Klage insoweit begründet, als der Kläger in dem Fall einen Anspruch auf die begehrten Leistungen der Regelbedarfsstufe 1 hätte. Denn in diesem Fall wäre die Leistungshöhe gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG entsprechend § 28 SGB XII zu bestimmen. [...]

III. Verfassungswidrigkeit des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylblG

Die Kammer hält die einfachrechtlich anzuwendende Norm des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG insoweit für verfassungswidrig, als sie sich auf alleinstehende Leistungsberechtigte erstreckt. Der in § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG normierte Leistungsumfang für alleinstehende Erwachsene ist mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar (dazu 1.). § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG verletzt zudem den allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG (dazu 2.)

1. Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums

§ 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG ist mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG (dazu a)) werden durch § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG verfehlt (dazu b)).

a) Verfassungsrechtlicher Maßstab [...]

aa) Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums

Das Grundgesetz garantiert mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. [...]

bb) Ausgestaltung der Leistungen durch den Gesetzgeber

Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Ein*e Hilfebedürftige*r darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des*r Hilfebedürftigen gewährleistet ist. Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes*r individuellen Grundrechtsträgers*in deckt. Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkommt, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig (vgl. BVerfGE 125, 175 <223 f.>; BVerfGE 132, 134<160>). [...]

cc) Verfassungsgerichtliche Kontrolle

Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenzminimums entspricht eine zurückhaltende Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht. [...]

dd) Zulässige Unterscheidung zwischen Personengruppen

Werden hinsichtlich bestimmter Personengruppen unterschiedliche Methoden zugrunde gelegt, muss dies sachlich zu rechtfertigen sein (vgl. BVerfGE 125, 175 <225>). [...]

ee) Zulässige Kürzung bei "Wirtschaften aus einem Topf"

Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, zur Gewährleistung einer menschenwürdigen Existenz anerkannte Sozialleistungen in Orientierung an der Bedürftigkeit der Betroffenen pauschal um Einsparungen zu kürzen, die im familiären häuslichen Zusammenleben typisch sind (vgl. BVerfGE 125, 175 <230 f.>; BVerfGE 137, 34 <83>; BVerfG, Beschluss vom 27. Juli 2016- 1 BvR 371/11 -, BVerfGE 142, 353-388, Rn. 52). [...]

b) Verletzung der verfassungsrechtlichen Anforderungen

Nach diesen Grundsätzen genügt die vorgelegte Vorschrift den Vorgaben von. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG nicht.

Die Anwendung der Regelbedarfsstufe 2 auf alleinstehende Leistungsberechtigte, die in einer Sammelunterkunft untergebracht sind, lässt sich nicht nachvollziehbar und sachlich differenziert tragfähig begründen.

Der Gesetzgeber geht davon aus, dass es durch die gemeinsame Nutzung von Räumlichkeiten zu Einspareffekten kommt. Der Gesetzgeber hat weder empirische Erhebungen vorgenommen, die eine solche These tragen würden (dazu aa)), noch tragfähige Annahmen vorgebracht, die ein solches gemeinsames Wirtschaften mit Einspareffekten nahelegen könnten (dazu bb)). Schließlich kann die Anwendung der Regelbedarfsstufe 2 auch nicht mit der Annahme einer Obliegenheit zum gemeinsamen Wirtschaften begründet werden (dazu cc)). [...]

2. Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG

§ 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG verletzt auch den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Eine Verletzung folgt zunächst aus der Ungleichbehandlung mit Leistungsberechtigten, die nicht in einer Sammelunterkunft leben (dazu a)) und aus der Gleichbehandlung mit (Ehe-)Paaren in Sammelunterkünften (dazu b)). Auch die Ungleichbehandlung mit Leistungsberechtigten nach dem SGB II und dem SGB XII (dazu c)) und mit Bewohner*innen von Wohngemeinschaften (dazu d)) sowie die Gleichbehandlung aller Bewohner*innen von Sammelunterkünften trotz unterschiedlicher Unterbringungsformen (dazu e)) verstoßen gegen den Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. [...]

IV. Vorlagefrage

Vorzulegen ist § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG, soweit von der Norm auch alleinstehende Leistungsberechtigte erfasst sind. Denn die Norm verletzt insoweit das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG und den Allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG.

Soweit sich die Norm auf Ehegatten oder Lebenspartner oder Paare, die in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft in einer Sammelunterkunft leben, bezieht, ist eine Zuordnung zur Regelbedarfsstufe 2 verfassungskonform.

Da die Vorlagefrage, wie ausführlich dargelegt, auch nicht durch verfassungskonforme Auslegung beantwortet werden kann und die Rechtsgültigkeit des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG entscheidungserheblich ist, musste der Rechtsstreit gemäß Art. 100 Abs. 1 GG in Verbindung mit § 80 Abs. 1 BVerfGG ausgesetzt und dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt werden. [...]