OVG Niedersachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 14.04.2021 - 13 FEK 306/20 (Asylmagazin 6/2021, S. 222 f.) - asyl.net: M29569
https://www.asyl.net/rsdb/m29569
Leitsatz:

Anspruch auf Entschädigung wegen unangemessener Dauer des Asylklageverfahrens:

1. Zur Bestimmung einer unangemessenen Verfahrensdauer im Sinne von § 198 GVG bestehen keine festen Richtwerte. Vielmehr sind bei der Berechnung die Schwierigkeit des Verfahrens, seine Bedeutung für die klagenden Personen und das Verhalten der Parteien im Verfahren einzubeziehen.

2. Hinsichtlich des hier streitgegenständlichen Klageverfahrens eines syrischen Asylsuchenden, das 37 Monate dauerte, war eine Verzögerung für einen Zeitraum von 15 Mnaten nicht mehr zu rechtfertigen und eine Entschädigung in Höhe von 1500 € zuzusprechen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylverfahrensdauer, Verfahrensdauer, Entschädigung, Syrien, GVG, Unangemessene Dauer,
Normen: GVG § 198
Auszüge:

[...]

33 I. Der Kläger hat einen Entschädigungsanspruch aus § 173 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 198 Abs. 1 GVG in Höhe von 1.701,71 EUR gegen den Beklagten.

34 Nach § 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 198 Abs. 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Das Bundesverwaltungsgericht hat dazu die folgenden Grundsätze aufgestellt (BVerwG, Urt. v. 11.7.2013 - BVerwG 5 C 23.12 D -, juris Rn. 37 ff.), denen der Senat folgt (vgl. auch Gerichtsbescheid d. Senats v. 3.4.2020 - 13 F 315/19 -, V.n.b., Umdruck S. 5 ff.):

35 "bb) Die Verfahrensdauer ist unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus konventions- und verfassungsrechtlichen Normen folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist. Dabei ist vor allem auch zu prüfen, ob Verzögerungen, die durch die Verfahrensführung des Gerichts eintreten, bei Berücksichtigung des dem Gericht zukommenden Gestaltungsspielraumes sachlich gerechtfertigt sind. Dieser Maßstab erschließt sich aus dem allgemeinen Wertungsrahmen, der für die Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Unangemessenheit vorgegeben ist (vgl. BSG, Urteil vom 21. Februar 2013 a.a.O. Rn. 25 ff.), und wird durch diesen weiter konkretisiert. [...]."

43 Für die Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer kommt es nicht darauf an, ob sich der zuständige Spruchkörper pflichtwidrig verhalten hat, so dass die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer dementsprechend für sich allein keinen Schuldvorwurf für die mit der Sache befassten Richter impliziert (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs vom 17.11.2010, BT-Drs. 17/3802, S. 19). Da es für die Frage der Unangemessenheit der Verfahrensdauer auf die Umstände des Einzelfalls ankommt und eine generelle Festlegung, wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, nicht möglich ist, benennt § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nur beispielhaft und ohne abschließenden Charakter Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit besonders bedeutsam sind (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs vom 17.11.2010, BT-Drs. 17/3802, S. 18). Der Senat ist aufgrund der dargelegten Grundsätze der Auffassung, dass nicht jede gerichtliche Handlung und jeder Zeitraum, in dem keine nach außen dokumentierten Aktionen des Gerichts stattgefunden haben, im Einzelnen daraufhin überprüft werden müssen, ob hierin eine unangemessene Verzögerung lag oder ob hierin ein gerechtfertigter Zeitraum zur Entscheidungsfindung gesehen werden kann. Dies würde gegen den Grundsatz der Unabhängigkeit des Richters verstoßen, da die Gewichtung der vielfältigen Verfahren in einem Dezernat und die Frage, wie und zu welchem Zeitpunkt ein konkretes Verfahren gefördert werden soll, grundsätzlich einem Entscheidungsspielraum des Richters unterliegt. Es ist vielmehr unter Berücksichtigung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Kriterien eine Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls dahingehend vorzunehmen, ob es unangemessene Verzögerungen des Verfahrens gegeben hat, die in den Verantwortungsbereich des jeweiligen Spruchkörpers fallen, wobei einzelne Abschnitte des Verfahrens in den Blick genommen werden können. [...]

45 Bei Berücksichtigung dieser Vorgaben erweist sich die Dauer des erstinstanzlichen Verfahrens von insgesamt mehr als 37 Monaten im vorliegenden konkreten Einzelfall als unangemessen. Die Verzögerung ist hinsichtlich eines Zeitraums von insgesamt 15 Monaten sachlich nicht mehr zu rechtfertigen.

46 1. Das Verfahren weist einen durchschnittlichen Schwierigkeitsgrad auf. Es handelt sich um die in den letzten Jahren häufig am Verwaltungsgericht anzutreffende Klage eines Syrers, der sich dagegen wendet, dass ihm lediglich der subsidiäre Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 AsylG, nicht hingegen der Flüchtlingsschutz nach § 3 Abs. 1 AsylG zuerkannt wurde. Die rechtlichen Maßstäbe sind insoweit grundsätzlich geklärt, es kommt in erster Linie auf das individuelle Vorbringen des Klägers sowie die Glaubhaftigkeit seiner Angaben an, was der - in der Regel (vgl. § 76 Abs. 1 AsylG) - Einzelrichter regelmäßig durch eine informatorische Anhörung des Klägers zu ergründen hat. Im Verfahren trug der Kläger zu seiner oppositionellen Betätigung vor, legte sein Wehrdienstbuch ohne Übersetzung vor und verwies auf Links zu zwei Internet-Videos. Hieraus ergibt sich, entgegen der Auffassung des Beklagten, keine überdurchschnittliche Schwierigkeit des Verfahrens, da die Prüfung solcher Unterlagen und Medien sowie der Glaubhaftigkeit des Vorbringens mit anschließender rechtlicher Bewertung in Asylstreitigkeiten regelmäßig vorzunehmen ist.

47 2. Die Bedeutung des Verfahrens für den Kläger ist als durchschnittlich einzuschätzen. Entscheidend ist dabei eine objektive, nicht aber die subjektive Beurteilung des jeweiligen Klägers, es kommt also auf den verständigen Betroffenen an (Niedersächsisches OVG, Gerichtsbescheid v. 24.6.2016 - 21 F 1/16 -, juris Rn. 46 m.w.N.). Für den Kläger ging es nicht um die Frage, ob er in Deutschland bleiben darf oder abgeschoben werden kann, sondern lediglich um die Frage, welchen Schutzstatus er erhält. [...]

48 3. Das Verhalten der Verfahrensbeteiligten trug nicht zu einer relevanten Verzögerung des Rechtsstreits bei. [...]

49 4. Unter Berücksichtigung der zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Gesichtspunkten angestellten Bewertungen und der gerichtlichen Gestaltungsfreiheit wurde das Verfahren zwischen August 2018 und November 2019 für 15 Monate ohne sachlichen Rechtfertigungsgrund nicht gefördert. Es ist mithin im konkreten Einzelfall von einer noch angemessenen Verfahrensdauer von 22 Monaten auszugehen. [...]

55 5. Durch die Verzögerung von 15 Monaten erlitt der Kläger einen immateriellen Nachteil, der durch Entschädigung in Höhe von 1.500 EUR wiedergutzumachen ist (a.). [...]

56 a. Nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG wird ein immaterieller Nachteil vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren - wie hier - unangemessen lange gedauert hat. Dabei handelt es sich um eine widerlegbare Vermutung, die dem Betroffenen die Geltendmachung eines immateriellen Nachteils erleichtern soll, weil in diesem Bereich ein Beweis oft nur schwierig oder gar nicht zu führen ist. Im Entschädigungsprozess ist die Vermutung widerlegt, wenn der Beklagte das Fehlen eines immateriellen Nachteils darlegt und beweist, wobei ihm, da es sich um einen Negativbeweis handelt, die Grundsätze der sekundären Behauptungslast zugutekommen können. Die Vermutung eines auf der Verfahrensdauer beruhenden immateriellen Nachteils ist dann widerlegt, wenn das Entschädigungsgericht unter Berücksichtigung der vom Kläger gegebenenfalls geltend gemachten Beeinträchtigungen nach einer Gesamtbewertung der Folgen, die die Verfahrensdauer mit sich gebracht hat, die Überzeugung gewinnt, dass die (unangemessene) Verfahrensdauer nicht zu einem Nachteil geführt hat (zum Vorstehende insgesamt: BGH, Urt. v. 13.4.2017 - III ZR 277/16 -, juris Rn. 21). Der Beklagte hat die Vermutung vorliegend nicht widerlegt. Er trägt vor, der Kläger habe durch die Länge des Verfahrens einen Vorteil erlangt, da er bei früherem Abschluss des Verfahrens früher in den Status der bloßen Duldung übergewechselt wäre. Dies wäre wirtschaftlich und in Bezug auf den Zugang zum Arbeitsmarkt und angestrebte Integrationsmaßnahmen nachteilig für ihn gewesen. Dabei verkennt der Beklagte, dass dem Kläger bereits der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde und es ihm mit der Klage lediglich um den weitergehenden Flüchtlingsschutz ging. Er hätte somit bei einem früheren negativen Ausgang des Verfahrens nicht früher den Status der Duldung gehabt, so dass ein Vorteil des Klägers durch die lange Verfahrensdauer nicht ersichtlich ist. Entgegen dem Vorbringen des Klägers ist aber auch kein im Entschädigungsprozess zu berücksichtigender über den vermuteten immateriellen Nachteil hinausgehender Schaden dadurch entstanden, dass bei einer schnellen Entscheidung diese nach der früheren Rechtsprechung der Kammer zugunsten des Klägers ausgegangen wäre. Einerseits ist es bloße Spekulation, ob dem Kläger bei einer zügigen Entscheidung rechtskräftig der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden wäre, andererseits führt eine Änderung der Rechtsprechung nicht dazu, dass ein im Entschädigungsprozess zurechenbarer Schaden entsteht. Die Möglichkeit der Änderung der Rechtsprechung besteht ohnehin und wird nicht beeinflusst durch die Länge des gerichtlichen Verfahrens. [...]

58 Der Kläger ist in Höhe von 1.500 EUR zu entschädigen. Die Bemessung des immateriellen Nachteils richtet sich nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG. Danach ist der immaterielle Nachteil in der Regel in Höhe von 1.200 EUR für jedes Jahr der Verzögerung zu entschädigen. Für Zeiträume unter einem Jahr lässt diese Regelung eine zeitanteilige, monatliche Berechnung zu (vgl. Niedersächsisches OVG, Gerichtsbescheid v. 24.6.2016 - 21 F 1/16 -, juris Rn. 65). Nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen, wenn der Betrag von 1.200 EUR nach den Umständen des Einzelfalles unbillig ist. Solche Umstände sind hier weder ersichtlich noch vorgetragen. Insbesondere liegt ein solcher Umstand, wie oben dargelegt, nicht darin begründet, dass bei einer früheren Entscheidung das Verwaltungsgericht - mutmaßlich - eine der Klage stattgebende Entscheidung getroffen hätte. [...]