VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 24.03.2021 - A 9 S 115/20 - asyl.net: M29636
https://www.asyl.net/rsdb/m29636
Leitsatz:

Verletzung des "Rechts auf den gesetzlichen Richter" bei Gesuchen zur Ablehnung von Richter*innen:

"Eine Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch durch den abgelehnten Richter selbst ist mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur vereinbar, wenn das Ablehnungsgesuch gänzlich untauglich oder rechtsmissbräuchlich ist. Denn in diesen Fällen erfordert die Prüfung des Ablehnungsgesuchs keine Beurteilung des eigenen Verhaltens durch den abgelehnten Richter selbst und ist deshalb keine Entscheidung in eigener Sache (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 20.08.2020 - 1 BvR 793/19 -, und vom 11.03.2013 - 1 BvR 2853/11 -, beide juris)."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Befangenheit, Rechtsmissbrauch, Terminsverlegung, Gesetzlicher Richter, Prozessrecht, rechtliches Gehör, Berufungszulassung,
Normen: GG Art. 101 Abs. 1 S. 2, GG Art. 103 Abs. 1, VwGO § 138 Nr. 1, VwGO § 45 Abs. 1, VwGO § 54 Abs. 1, ZPO § 227 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet u.a., dass die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens nicht vor einem Richter stehen, dem es an der gebotenen Neutralität und Distanz fehlt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 08.02.1967 - 2 BvR 235/64 - BVerfGE 21, 139, vom 08.06.1993 - 1 BvR 878/90 - BVerfGE 89, 28 und vom 11.03.2013, a.a.O.). In der Konsequenz dieser Garantie liegt es auch, nicht vor einem Richter stehen zu müssen, über dessen Ablehnung unter Verstoß gegen Art. 101 Abs.1 Satz 2 GG entschieden worden ist (BVerfG, Beschluss vom 11.03.2013, a.a.O.). [...]

Nach § 54 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 45 Abs. 1 ZPO entscheidet über das Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit das Gericht, dem der Abgelehnte angehört, ohne dessen Mitwirkung. Hiernach ist der zur Entscheidung berufene Spruchkörper, dem der abgelehnte Richter als Einzelrichter angehört, durch andere Mitglieder des Spruchkörpers nach Maßgabe der kammerinternen Regelung, sodann durch die übrigen nach der Geschäftsverteilung des Gerichts zur Vertretung heranzuziehenden Richter dieses Gerichts zu ergänzen. Eine Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch durch den abgelehnten Richter selbst ist mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur vereinbar, wenn das Ablehnungsgesuch gänzlich untauglich oder rechtsmissbräuchlich ist. Denn in diesen Fällen erfordert die Prüfung des Ablehnungsgesuchs keine Beurteilung des eigenen Verhaltens durch den abgelehnten Richter selbst und ist deshalb keine Entscheidung in eigener Sache (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 20.08.2020 - 1 BvR 793/19 -, juris, und vom 11.03.2013, a.a.O., jeweils m.w.N.). Ein solches vereinfachtes Ablehnungsverfahren soll jedoch nur echte Formalentscheidungen ermöglichen oder einen offensichtlichen Missbrauch des Ablehnungsverfahrens verhindern, weshalb eine enge Auslegung der entsprechenden Voraussetzungen geboten ist (BVerfG, Beschlüsse vom 20.08.2020 und vom 11.03.2013, jeweils a.a.O.). Eine völlige Ungeeignetheit des Ablehnungsgesuchs ist anzunehmen, wenn für eine Verwerfung als unzulässig jedes Eingehen auf den Gegenstand des Verfahrens selbst entbehrlich ist, weil das Ablehnungsgesuch für sich allein, das heißt ohne jede weitere Aktenkenntnis, offenkundig eine Ablehnung nicht zu begründen vermag. Ist hingegen ein - wenn auch nur geringfügiges - Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet eine Ablehnung des Befangenheitsgesuchs durch den abgelehnten Richter als unzulässig aus (BVerfG, Beschlüsse vom 20.08.2020 und vom 11.03.2013, jeweils a.a.O). Bei der Anwendung dieses Prüfungsmaßstabs ist das Gericht in besonderem Maße verpflichtet, das Ablehnungsgesuch seinem Inhalt nach vollständig zu erfassen und gegebenenfalls wohlwollend auszulegen, da es anderenfalls leicht dem Vorwurf ausgesetzt werden kann, tatsächlich im Gewand der Zulässigkeitsprüfung in eine Begründetheitsprüfung einzutreten (BVerfG, Beschlüsse vom 20.08.2020 und vom 11.03.2013, jeweils a.a.O.). Diese Grundsätze hat der Einzelrichter des Verwaltungsgerichts offensichtlich verkannt und in durch sachliche Gründe nicht gerechtfertigter Weise in eigener Sache entschieden.

Er hat zur Rechtfertigung der Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs das Kriterium der Rechtsmissbräuchlichkeit herangezogen und sachfremde Zwecke behauptet, die er mit dem Verweis auf die Unbegründetheit des Terminsverlegungsantrags zu untermauern versucht hat. Abgesehen davon, dass die behaupteten sachfremden Zwecke an keiner Stelle benannt werden, wird die Auffassung des Einzelrichters, der Kläger begründe das Gesuch allein damit, dass ein erheblicher Grund im Sinne des § 227 Abs. 1 ZPO vorgelegen hätte und der Termin zur mündlichen Verhandlung aus diesem Grund aufzuheben gewesen wäre, dem sechsseitigen Befangenheitsgesuch nicht gerecht und trifft auch nicht zu. Die detaillierte Begründung des Antrags dahingehend, dass die Ablehnung der Terminsverlegung, die sich inhaltlich nicht mit dem Vorbringen des Klägers auseinandersetze, sondern vielmehr lediglich die Gründe der in Bezug genommenen - und im Übrigen nicht vergleichbaren - Entscheidung des OVG Sachsen-Anhalt wortgleich übernehme, besorgen lasse, dass das Gericht die Bedeutung des Asylverfahrens in grundlegender und Misstrauen begründender Weise verkenne, lässt nicht ansatzweise den Schluss auf einen Missbrauch des Ablehnungsrechts zu. Dass die Begründung des Gesuchs unter keinem denkbaren Gesichtspunkt die Ablehnung des Richters rechtfertigen konnte und mit der Art und Weise der Anbringung ein gesetzeswidriger und damit das Instrument der Richterablehnung missbrauchender Einsatz dieses Rechts erkennbar wurde (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 14.11.2012 - 2 KSt 1.11 - juris Rn. 2), ergibt sich nicht, im Gegenteil: Schon die Verfahrensweise des Einzelrichters bei der Ablehnung des Terminsverlegungsantrags begegnet vor dem Hintergrund von Art. 103 Abs. 1 GG erheblichen Bedenken. Der Einzelrichter erkennt auch im Ausgangspunkt zutreffend, dass die Verweigerung einer beantragten Terminsverlegung die Besorgnis der Befangenheit begründen kann. Ob dies auch hier der Fall war, durfte er indes nicht selbst beurteilen. Das Ablehnungsgesuch erforderte letztendlich eine Entscheidung darüber, ob sich der abgelehnte Richter durch die Behandlung des Terminsverlegungsantrags soweit von Recht und Gesetz entfernt hatte, dass die Besorgnis seiner Befangenheit bestand. Damit war er gezwungen, über sein vorangegangenes eigenes Verhalten bei der Ablehnung des Terminsverlegungsantrags zu entscheiden und sich dadurch zu einem Richter in eigener Sache zu machen. Dies war ihm von Verfassungs wegen verwehrt. [...]