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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 18.02.2021 - 1 C 4.20 - asyl.net: M29659
https://www.asyl.net/rsdb/m29659
Leitsatz:

Wahrung des Existenzminimums ausreichend für die Zumutbarkeit der Niederlassung am Ort des internen Schutzes:

"1. Die Niederlassung in einem sicheren Landesteil (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG) kann i.S.d. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG vernünftigerweise erwartet werden (Zumutbarkeit der Niederlassung), wenn bei umfassender wertender Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen persönlichen Verhältnisse am Ort des internen Schutzes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine anderen Gefahren oder Nachteile drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer für den internationalen Schutz relevanten Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, und auch sonst keine unerträgliche Härte droht. Der Sicherung der wirtschaftlichen Existenz am Ort des internen Schutzes ist dabei eine hervorgehobene Bedeutung beizumessen.

2. Das wirtschaftliche Existenzminimum muss am Ort des internen Schutzes nur auf einem Niveau gewährleistet sein, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt. Darüber hinausgehende Anforderungen sind keine notwendige Voraussetzung der Zumutbarkeit einer Niederlassung.

3. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trägt die Darlegungs- und materielle Beweislast dafür, dass das wirtschaftliche Existenzminimum bei der gebotenen Prognose gewährleistet ist."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, interner Schutz, interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Abschiebungsverbot, allgemeine Lebensverhältnisse, ernsthafter Schaden, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Zumutbarkeit, Niederlassung, Beweislast, Darlegungslast,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 3, AsylG § 3e, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

13 1. Einer Zuerkennung subsidiären Schutzes für den Kläger, für den das Berufungsgericht das Vorliegen der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) an seinem Herkunftsort nicht abschließend geprüft, aber auch nicht verneint hat, steht entgegen, dass er - vorbehaltlich der gesondert zu behandelnden wirtschaftlichen Existenzbedingungen (2.) - nach § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG auf die Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif als Orte des internen Schutzes verwiesen werden kann. Das Berufungsgericht ist auf der Grundlage eines mit Bundesrecht vereinbaren Maßstabes verfahrensfehlerfrei zu der Bewertung gelangt, dass der Kläger in diesen Landesteilen keine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden hat (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG) (1.1), er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann (1.2) und er dort aufgenommen wird (1.3). [...]

22 1.3 Der Kläger konnte auch damit rechnen, an den Orten des internen Schutzes aufgenommen zu werden.

23 a) Am Ort des internen Schutzes findet ein Ausländer "Aufnahme", wenn er nach dessen legaler Erreichbarkeit nicht nur erstmaligen Zugang erhält, sondern dort legal seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründen kann. Der dauernde Aufenthalt darf mithin nicht kraft Gesetzes oder durch administrative Beschränkungen vollständig untersagt oder von Voraussetzungen abhängig sein, die von dem Ausländer tatsächlich nicht oder nur unter für ihn unzumutbaren Bedingungen erfüllt werden können. Es darf mithin kein illegaler Aufenthalt und in dem Sinne unbeständiger Aufenthalt sein, so dass der Ausländer jederzeit mit seiner Beendigung rechnen muss; unschädlich sind aufenthaltsbegrenzende Maßnahmen, Befristungen oder sonstige Voraussetzungen, die tatsächlich nicht durchgesetzt werden und deren Nichtbeachtung geduldet wird.

24 Aus dem Begriff des "Aufnahme Findens" ergeben sich jenseits der Möglichkeit einer mehr als vorübergehenden, hinreichend gesicherten physischen Präsenz am Ort des internen Schutzes keine weitergehenden Anforderungen an die Qualität des Aufenthalts. Der interne Schutz soll lediglich wirksam und nicht nur vorübergehender Art sein (Erwägungsgrund 26 RL 2011/95/EU). Die "Aufnahme" ist aber von der Zumutbarkeit der Niederlassung zu unterscheiden. "Aufnahme" besagt nichts zu den Aufnahmebedingungen und umfasst schon begrifflich insbesondere nicht positive Maßnahmen am Aufnahmeort, etwa gezielte Unterstützungs- und Integrationsmaßnahmen, die Ermöglichung einer diskriminierungsfreien, gleichberechtigten Teilhabe am öffentlichen Leben oder sonstige Maßnahmen sozioökonomischer Integration (a.A. Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 3e Rn. 24 ff.; Wittmann, in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 7. Edition, Stand 1. Januar 2021, § 3e AsylG Rn. 51). Dies bestätigen nicht zuletzt die englische und die französische Sprachfassung des Art. 8 Abs. 1 RL 2011/95/EU ("gain admittance"; "obtenir l'autorisation d'y pénétrer"). Solange tatsächlich die physische Präsenz am Ort des internen Schutzes legal möglich oder doch verlässlich geduldet wird, sind auch Fragen der Aufnahmefähigkeit eines Ortes oder Landesteils erst und allein im Rahmen der Prüfung der Zumutbarkeit der Niederlassung zu berücksichtigen, wenn sie sich auf  die Lebensverhältnisse und Aufnahmebedingungen von Binnenflüchtlingen oder Rückkehrern auswirken und zugleich bewirken, dass diese das nach Art. 3 EMRK zu wahrende Mindestniveau unterschreiten. [...]

26 2. Das Berufungsgericht ist im Einklang mit Bundesrecht auch zu der Bewertung gelangt, dass von dem Kläger vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in einer der genannten Städte niederzulassen (Zumutbarkeit der Niederlassung).

27 Die Frage der Zumutbarkeit der Niederlassung erfordert eine umfassende wertende Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen Verhältnisse unter Berücksichtigung der in § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG genannten Dimensionen (2.1). Hierbei sind auch und gerade die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Blick zu nehmen, die der Ausländer am Ort der Niederlassung zu gewärtigen hat. Erforderliche, aber auch hinreichende Voraussetzung für die Niederlassung ist, dass das wirtschaftliche Existenzminimum auf einem Niveau gewährleistet ist, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt; darüber hinausgehende Anforderungen sind nicht notwendige Voraussetzung der Zumutbarkeit der Niederlassung (2.2). Der Senat kann entscheiden, ohne dass es für die vorliegende Fallkonstellation eines Landes mit - wie hier Afghanistan - hoher Armut zuvor einer weiteren Klärung durch den EuGH bedarf (2.3). Auf der Grundlage dieser Maßstäbe hat das Berufungsgericht die Zumutbarkeit der Niederlassung ohne Bundesrechtsverstoß bejaht (2.4).

28 2.1 Die Zumutbarkeit der Niederlassung tritt selbständig neben die Sicherheit vor (neuerlicher) Verfolgung oder der Gefahr eines ernsthaften Schadens (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Zumutbar ist die Niederlassung dann, wenn am Ort des internen Schutzes auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit andere Gefahren oder Nachteile drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer für den internationalen Schutz relevanten Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen. Ist interner Schutz indes zumutbar in Anspruch zu nehmen, liegen die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes nicht vor. [...]

30 Die Zumutbarkeit der Niederlassung am Ort des internen Schutzes bleibt mithin eingebettet in den flüchtlingsrechtlichen Zusammenhang. Sie zielt nicht darauf, die in völker- und unionsrechtlichen Kodifikationen enthaltenen Grund- oder Menschenrechte umfassend zu verwirklichen; jenseits der Missachtung grundlegender Menschenrechtsstandards scheidet ein Gebiet nicht schon dann als Ort internen Schutzes aus, wenn dort "irgendein bürgerliches, politisches oder sozioökonomisches Menschenrecht vorenthalten wird" (Nr. 28 UNHCR-Richtlinie 2003). Die Vorenthaltung von Grund- oder Menschenrechten bürgerlicher, politischer, sozialer und kollektiver Natur, die nach Art oder Wiederholung nicht so gravierend sind, dass sie weder für sich noch in der Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen als Verfolgungshandlung (§ 3a Abs. 1 AsylG) zu werten sind, reicht regelmäßig nicht aus; umgekehrt macht eine als Verfolgungshandlung zu qualifizierende Beeinträchtigung grundlegender Menschenrechte die Niederlassung am Ort des internen Schutzes grundsätzlich auch dann unzumutbar, wenn die schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte nicht im Sinne des § 3a Abs. 3 AsylG auf einen Verfolgungsgrund (§ 3b AsylG) zurückzuführen ist oder nicht von einem verfolgungsmächtigen Akteur (§ 3c AsylG) ausgeht. Entsprechendes gilt über § 4 Abs. 3 AsylG beim subsidiären Schutz. Der vorliegende Fall gibt dabei keinen Anlass zur abschließenden Erörterung der Frage, unter welchen Voraussetzungen in Fällen, in denen die Voraussetzungen des § 3a Abs. 1 AsylG nicht erfüllt sind, die Nichtbeachtung von Menschenrechten am Ort des internen Schutzes eine Niederlassung unzumutbar macht.

31 Ob auch diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist nach § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG unter Berücksichtigung der allgemeinen Gegebenheiten am Ort des internen Schutzes, insbesondere der wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung, sowie der persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 RL 2011/95/EU zu prüfen, also insbesondere von familiärem und sozialem Hintergrund, Geschlecht und Alter. Nr. 25 UNHCR-Richtlinie 2003 nennt als maßgebliche Faktoren Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Behinderungen, die familiäre Situation und Verwandtschaftsverhältnisse, soziale oder andere Schwächen, ethnische, kulturelle oder religiöse Überlegungen, politische und soziale Verbindungen und Vereinbarkeiten, Sprachkenntnisse, Bildungs-, Berufs- und Arbeitshintergrund und -möglichkeiten sowie ggf. erlittene Verfolgung und deren psychische Auswirkungen. Maßstab für die Zumutbarkeit ist mithin nicht eine "(hypothetische) vernünftige Person" oder eine von individuellen Besonderheiten abstrahierende Betrachtungsweise. In den Blick zu nehmen sind die jeweils schutzsuchende Person und ihre konkreten Möglichkeiten, am Ort des internen Schutzes (über)leben zu können. Diese konkret-individuelle Betrachtungsweise wirkt sich indes nicht - gar notwendig oder regelmäßig - darauf aus, welche Lebens- und Entfaltungschancen auf welchem Niveau gewährleistet sein müssen; sie prägt die Beurteilung, ob das menschenrechtlich zumutbare Mindestniveau auch in jedem Einzelfall gewahrt werden kann. [...]

33 2.2 Die vom Senat bislang offengelassene Frage (BVerwG, Urteile vom 29. Mai 2008 - 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 Rn. 35 und vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 Rn. 20; Beschluss vom 14. November 2012 - 10 B 22.12 - NVwZ 2013, 282 <283>), welche darüber hinausgehenden wirtschaftlichen und sozialen Standards den Zumutbarkeitsmaßstab prägen, ist im Einklang mit dem Berufungsgericht in Bezug auf das wirtschaftliche Existenzminimum dahin zu beantworten, dass die Wahrung des durch Art. 3 EMRK geforderten Existenzminimums nicht nur notwendige, sondern auch hinreichende Voraussetzung für die Zumutbarkeit der Niederlassung ist. Der Senat verkennt dabei nicht, dass das Schrifttum weit überwiegend, wenngleich in teils unklarem Umfang eine wirtschaftliche Existenzsicherung oberhalb des durch Art. 3 EMRK Gebotenen für angezeigt hält (s. nur Bergmann, in: ders./Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 3e AsylG Rn. 3; Dörig, in: ders. <Hrsg.>, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 19 Rn. 151 f.; Kluth, in: ders./Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 28. Edition, Stand 1. Januar 2021, § 3e AsylG Rn. 8; Lehmann, NVwZ 2007, 508 <513 f.>; Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 3e Rn. 28 f., 30; ders., ZAR 2017, 304 <306 ff.>; Möller, in: Hofmann <Hrsg.>, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 3e AsylG Rn. 7; Wittmann, in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 7. Edition, Stand 1. Januar 2021, § 3e AsylG Rn. 44 ff.; a.A. Hailbronner, Ausländerrecht, § 3e AsylG Rn. 14 f., Stand Juni 2014).

34 Die materiellen Existenzbedingungen am Ort des internen Schutzes haben für die Zumutbarkeit eine besondere Bedeutung (2.2.1). Über das durch Art. 3 EMRK geforderte Existenzminimum hinausgehende, weitergehende Anforderungen ergeben sich weder aus dem Wortlaut des § 3e Abs. 1 AsylG noch aus dem Gebot des § 3e Abs. 2 AsylG, die allgemeinen Lebensverhältnisse des Herkunftslandes zu berücksichtigen (2.2.2). Die Funktion, die dem internen Schutz im System des internationalen Schutzes zukommt, weist - nicht zuletzt im Vergleich mit den Gründen, die schutzbegründend wirken können - gegen einen oberhalb des aus Art. 3 EMRK folgenden Mindeststandard für die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse am Ort des internen Schutzes (2.2.3). Entsprechendes gilt für die jüngere Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU (2.2.4). Gegenteiliges folgt nicht aus der UNHCR-Richtlinie 2003 und hieran anknüpfender Rechtsprechung (2.2.5). Die Entstehungsgeschichte des Art. 8 RL 2011/95/EU, dessen Umsetzung § 3e AsylG dient, bekräftigt die Anknüpfung an den durch Art. 3 EMRK geprägten Mindestschutzstandard (2.2.6). [...]

36 2.2.2 Der Wortlaut des § 3e AsylG enthält keine ausdrücklichen Regelungen, welche für die Zumutbarkeit der Niederlassung ein bestimmtes Mindestniveau für die wirtschaftlichen Existenzbedingungen vorgeben oder gar definieren, und weist jedenfalls nicht darauf, dass das wirtschaftliche Existenzminimum auf einem höheren als dem durch Art. 3 EMRK garantierten Niveau gewährleistet sein müsse.

37 a) Aus dem Begriff der Niederlassung folgt zwar, dass - in zeitlicher Hinsicht - am Ort des internen Schutzes ein perspektivisch dauerhafter Aufenthalt muss begründet werden können und die Möglichkeit eines nur vorübergehenden Verweilens unter kurzzeitiger Unterbrechung einer fortdauernden Flucht nicht ausreicht (s.a. OVG Bremen, Urteil vom 26. Mai 2020 - 1 LB 56/20 [ECLI:DE: OVGHB:2020:0526.1LB56.20.00] - juris Rn. 74). Dies prägt auch den bei der erforderlichen Prognose, ob die wirtschaftliche Existenz ohne Verletzung des Art. 3 EMRK gesichert werden kann, in den Blick zu nehmenden Zeitraum. In sachlicher Hinsicht folgt aus diesem Begriff indes nicht, dass die wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen - in dann begründungsbedürftigem Umfang - oberhalb der Schwelle des durch Art. 3 EMRK definierten Existenzminimums zu liegen hätten. Dies gilt auch für die Sicherung des existenziellen Grundbedürfnisses Wohnen und dort insbesondere den Schutz vor schlechter Witterung; eine eigene, dauerhaft zur alleinigen Verfügung stehende Wohnung ist nicht erforderlich, wenn durch den Zugang zu wechselnden Unterkünften Obdachlosigkeit hinreichend sicher vermieden werden kann (a.A. OVG Bremen, Urteil vom 26. Mai 2020 - 1 LB 56/20 - juris Rn. 74 ff., 92); auch Sammel- oder Lagerunterkünfte, die ein sicheres, witterungsfestes Obdach bieten und auch sonst eine menschenwürdige Unterkunft gewährleisten, sind nicht ausgeschlossen.

38 b) Das Gebot, die allgemeinen Verhältnisse des Herkunftslandes zu berücksichtigen (§ 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG), weist im Ergebnis weder für sich allein noch in Verbindung mit dem Begriff der "Niederlassung" darauf, dass die wirtschaftlichen Existenzbedingungen oberhalb der Schwelle des Art. 3 EMRK liegen müssen, um eine Niederlassung zumutbar zu machen. [...]

41 2.2.3 Durchgreifend gegen einen Mindeststandard für die wirtschaftliche Existenzsicherung oberhalb des durch Art. 3 EMRK Gebotenen spricht, dass der interne Schutz als negative Voraussetzung internationalen Schutzes außerhalb des eigenen Herkunftslandes auf den Schutz des Einzelnen vor Verfolgung (§§ 3a, 3b AsylG) oder einem ernsthaften Schaden (§ 4 AsylG) bezogen ist und damit im weiteren Sinne dem Refoulement-Schutz dient; er bildet kein Surrogat für den außerhalb des Herkunftsstaates gewährten Schutz (dazu Wittmann, in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 7. Edition, Stand 1. Januar 2021, § 3e AsylG Rn. 45 ff.). Die Lebensverhältnisse am Ort des internen Schutzes und insbesondere die Sicherung der materiellen Existenz dürfen nicht so schlecht sein, dass der Betroffene keinen anderen Ausweg sieht, als sich in Gebiete zu begeben, in denen ihm Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden droht. [...]

46 Zutreffend hat das Berufungsgericht insoweit darauf abgestellt, dass die Darlegungs- und materielle Beweislast für die Sicherung des Existenzminimums - anders als bei der Prüfung drohender Verfolgung eines nicht vorverfolgt ausgereisten Schutzsuchenden (BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 31.18 [ECLI: DE:BVerwG:2019:040719U1C31.18.0] - Buchholz 402.251 § 3 AsylG Nr. 3 Rn. 27) - bei der Beklagten liegt und nicht der Schutzsuchende darzulegen oder gar ggf. zu beweisen hat, dass er seine Existenzgrundlage nicht wird sichern können und deswegen der realen, nicht durch ihm zumutbare Bemühungen zur eigenen Existenzsicherung abwendbaren Gefahr nicht mit Art. 3 EMRK vereinbarer Lebensbedingungen ausgesetzt sein wird (so auch Nr. 34 UNHCR-Richtlinie 2003). Dabei ist sicherzustellen, dass die wirtschaftliche Existenz auf dem durch Art. 3 EMRK geforderten Niveau auch in der ersten Phase des Aufenthalts am Ort des internen Schutzes prognostisch gesichert sein muss; eine auch nur zeitweilige Unterschreitung dieses Niveaus ist selbst in einer Phase allfälliger anfänglicher Schwierigkeiten auszuschließen. Ein wie auch immer bestimmter "Sicherheitsaufschlag" auf das durch Art. 3 EMRK gewährleistete wirtschaftliche Existenzminimum als Zumutbarkeitsvoraussetzung für die Inanspruchnahme internen Schutzes hingegen ist auch nicht zur "Abfederung" von Prognoseschwierigkeiten oder -unsicherheit zu rechtfertigen. [...]

48 2.2.4 Der Ausschluss der Zumutbarkeit der Niederlassung erst bei Gefährdung des durch Art. 3 EMRK garantierten wirtschaftlichen Existenzminimums ergibt sich der Sache nach klar aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die Zuerkennung subsidiären Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat wegen der dort herrschenden Lebensverhältnisse die Befugnis ausschließt, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig abzulehnen (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim u.a. -; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:964], Hamed und Omar -). [...]

50 2.2.5 Weitergehende Anforderungen für das in Art. 8 RL 2011/95/EU geregelte und in § 3e AsylG in das nationale Recht umgesetzte Konzept des internen Schutzes ergeben sich für die Sicherung des wirtschaftlichen Existenzminimums nicht aus Nr. 22 ff. UNHCR-Richtlinie 2003 und der in der Begriffsbildung hieran anknüpfenden Rechtsprechung etwa des britischen House of Lords und österreichischer Gerichte (s.o. 2.2.2 b). [...]

54 c) Soweit Nr. 29 UNHCR-Richtlinie 2003 dahin zu verstehen sein sollte, dass der Verweis auf den internen Schutz nur dann zumutbar ist, wenn das wirtschaftliche Existenzminimum auf einem Niveau oberhalb des durch Art. 3 EMRK Gebotenen gewährleistet ist, bindet dies jedenfalls nicht für die Auslegung des Art. 8 Abs. 1 RL 2011/95/EU. Diese Auslegung geht - wenngleich in unklarem Umfang - über das nach Art. 3 EMRK menschenrechtlich Gebotene hinaus, das allerdings stets zu gewährleisten ist. Einen menschen- oder flüchtlingsrechtlich tragfähigen Grund, insoweit von der durch Wortlaut und Systematik vorgeprägten Auslegung des Zumutbarkeitsbegriffs abzuweichen, sieht der Senat nicht. Das Ziel der Vermeidung nicht näher spezifizierter "unbilliger Härten" rechtfertigt dies allzumal dann nicht, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse in dem Herkunftsland allgemein von Armut und problematischen Lebensverhältnissen geprägt werden. [...]

60 2.3 Gründe, den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV anzurufen, bestehen jedenfalls für die vorliegende Fallkonstellation eines Herkunftsstaates, in dem die Lebensverhältnisse allgemein von großer Armut geprägt sind, nicht.

61 Der Senat sieht auch in Ansehung der UNHCR-Richtlinie 2003 und der hieran anknüpfenden Rechtsprechung von Gerichten anderer (vormaliger) Mitgliedstaaten keinen vernünftigen Zweifel daran, dass ein Schutz der wirtschaftlichen Existenz oberhalb des durch Art. 3 EMRK Gebotenen nicht zwingende Voraussetzung der Zumutbarkeit der Niederlassung am Ort des internen Schutzes ist. Allerdings hat der Gerichtshof der Europäischen Union bislang nicht ausdrücklich zu dieser Rechtsfrage entschieden (so auch European Asylum Support Office <EASO>, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, June 2019, S. 131). Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Unzumutbarkeit der Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat (dazu 2.2.4) und die Entstehungsgeschichte des Art. 8 RL 2011/95/EU (2.2.6) lassen indes in Bezug auf die Lebensverhältnisse klar und eindeutig einen Rückgriff allein auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK und damit als ebenso notwendige wie (grundsätzlich) hinreichende Bedingung erkennen, dass bei Ausschluss einer drohenden Verletzung des Art. 3 EMRK eine Niederlassung zumutbar ist. [...]