EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 03.06.2021 - C-546/19 BZ gg. Deutschland - asyl.net: M29712
https://www.asyl.net/rsdb/m29712
Leitsatz:

Notwendigkeit der Aufhebung der Einreisesperre nach Aufhebung der Rückkehrentscheidung:

1. Die Rückführungsrichtlinie (2008/115/EG) findet nach ihrem Wortlaut auf alle illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen Anwendung. Der Anwendungsbereich der Richtlinie wird somit allein unter Bezugnahme auf die Situation des illegalen Aufenthalts bestimmt.

2. Wird eine Rückkehrentscheidung (z.B. eine Ausweisung), die mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot verbunden ist, später aufgehoben, so kann auch das Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht aufrechterhalten werden. Es ist ebenfalls aufzuheben. Denn es liefe der Rückführungsrichtlinie zuwider, das Bestehen eines Zwischenstatus von Drittstaatsangehörigen zu dulden, die sich ohne Aufenthaltsberechtigung und ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befänden und gegebenenfalls einem Einreiseverbot unterlägen, ohne dass gegen sie noch eine wirksame Rückkehrentscheidung bestünde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Einreise- und Aufenthaltsverbot, Ausweisung, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Unterstützung, terroristische Vereinigung, Abschiebungsverbot, Rückkehrentscheidung, Duldung,
Normen: RL 2008/115 Art. 1, RL 2008/115 Art. 6, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 11, AufenthG § 60a Abs. 2, AufenthG § 25 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

43 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2008/115 gemäß ihrem Art. 2 Abs. 1 auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältig Drittstaatsangehörige Anwendung findet. Der Begriff "illegaler Aufenthalt" wird in Art. 3 Nr. 2 dieser Richtlinie definiert als "die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats".

44 Aus dieser Definition geht hervor, dass jeder Drittstaatsangehörige, der sich, ohne die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet, schon allein deswegen dort illegal aufhältig ist und somit in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 fallt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Juni 2016, Affum, C-47/15, EU:C:2016:408, Rn. 48, sowie vom 19. Juni 2018, Gnandi, C-181/16 EU:C:2018:465, Rn. 39).

45 Daraus folgt, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie allein unter Bezugnahme auf die Situation des illegalen Aufenthalts, in der sich ein Drittstaatsangehöriger befindet, definiert wird, unabhängig von den Gründen, die dieser Situation zugrunde liegen, oder den Maßnahmen, die gegen ihn getroffen werden können. [...]

48 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. I der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass diese Richtlinie auf ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anwendbar ist, das von einem Mitgliedstaat, der von der in Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie vorgesehenen Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat, gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich in dessen Hoheitsgebiet befindet und gegen den aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf der Grundlage einer früheren strafrechtlichen Verurteilung ein Ausweisungsverfügung ergangen ist, verhängt wurde.

49 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass sie der Aufrechterhaltung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots, das von einem Mitgliedstaat gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich in dessen Hoheitsgebiet befindet und gegen den aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf der Grundlage einer früheren strafrechtlichen Verurteilung eine bestandskräftig gewordene Ausweisungsverfügung ergangen ist, verhängt wurde, entgegensteht, wenn die von diesem Mitgliedstaat gegen diesen Drittstaatsangehörigen erlassene Rückkehrentscheidung aufgehoben wurde.

50 In Art. 3 Nr. 6 der Richtlinie 2008/115 wird der Begriff "Einreiseverbot" definiert als "die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht". Die Rückkehrentscheidung wird in Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie definiert als "die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme[,] mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehöriger festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird".

51 Gemäß Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 gehen Rücklehrentscheidungen mit einem Einreiseverbot einher, wenn keine Frist für die freiwillige Ausreise: eingeräumt wurde oder wenn der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. In anderen Fällen kann eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen.

52 Dem Wortlaut dieser Bestimmungen ist zu entnehmen, dass ein "Einreiseverbot" die Rückkehrentscheidung dadurch ergänzen soll, dass dem Betroffenen verboten wird, während eines bestimmten Zeitraums nach seiner "Rückkehr'', wie sie in Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2008/115 definiert wird, also nach seiner Ausreise aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten, erneut in dieses Gebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten (Urteile vom 26. Juli 2017, Ouhrami, C-225/16, EU:C:2017:590, Rn. 45, sowie vom 17. September 2020, JZ [Freiheitsstrafe bei Verstoß gegen ein Einreiseverbot], C-806/18, EU:C:2020:724, Rn. 32). Ein Einreiseverbot entfaltet folglich seine Wirkungen erst ab dem Zeitpunkt, zu dem der Betreffende das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten tatsächlich verlässt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 2020, JZ [Freiheitsstrafe bei Verstoß gegen ein Einreiseverbot], C-806/18, EU:C:2020:724, Rn. 33)." [...]

57 Folglich liefe es, wie der Generalanwalt im Wesentlichen in Nr. 81 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sowohl dem Gegenstand der Richtlinie 2008/115, wie er in deren Art. 1 angeführt ist, als auch dem Wortlaut von Art. 6 der Richtlinie zuwider, das Bestehen eines Zwischenstatus von Drittstaatsangehörigen zu dulden, die sich ohne Aufenthaltsberechtigung und ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befänden und gegebenenfalls einem Einreiseverbot unterlägen, gegen die aber keine wirksame Rückkehrentscheidung mehr bestünde.

58 Die vorstehenden Erwägungen gelten auch für Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und die wie Herr Saoud nicht abgeschoben werden können, da der Grundsatz der Nichtzurückweisung dem entgegensteht. [...]

61 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass sie der Aufrechterhaltung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots, das von einem Mitgliedstaat gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich in dessen Hoheitsgebiet befindet und gegen den aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf der Grundlage eine früheren strafrechtlichen Verurteilung eine bestandskräftig geworden Ausweisungsverfügung ergangen ist, verhängt wurde, entgegensteht, wenn die von diesem Mitgliedstaat gegen diesen Drittstaatsangehörigen erlassene Rückkehrentscheidung aufgehoben wurde, und zwar selbst dann, wenn die Ausweisungsverfügung bestandskräftig geworden ist. [...]