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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 01.07.2021 - 2 BvR 890/20 (Asylmagazin 10-11/2021, S. 381 f.) - asyl.net: M29812
https://www.asyl.net/rsdb/m29812
Leitsatz:

Verfassungswidrige Ablehnung eines Befangenheitsantrags:

1. Ergeben sich aus einer vorherigen richterlichen Entscheidung begründete Zweifel an der Unvoreingenommenheit des zuständigen Gerichts (hier: ein Einzelrichter, der Migration für ein grundlegendes Übel hält und Asylsuchende mit Tötungsdelikten in Verbindung bringt), so ist die Besorgnis (hier: eines asylsuchenden Klägers) begründet, dass die verfassungsrechtlich gebotene richterliche Neutralität zum Streitgegenstand (hier: Asylverfahren) nicht gegeben ist.

2. Die Ablehnung des Befangenheitsantrags der beschwerdeführenden Person durch das Verwaltungsgericht ist offensichtlich unhaltbar und willkürlich erfolgt, daher verstößt die VG-Entscheidung gegen das "Recht auf den gesetzlichen Richter" nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Befangenheit, Asylverfahren, Neutralität, Recht auf gesetzlichen Richter, Migration, Grundgesetz,
Normen: GG Art. 101 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 29. April 2020 verstößt gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Ablehnung des Befangenheitsantrags des Beschwerdeführers durch das Verwaltungsgericht erweist sich als willkürlich (1.). Der Grundsatz der materiellen Subsidiarität steht der Annahme der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen; der Beschwerdeführer war nicht gehalten, den Abschluss des Berufungszulassungsverfahrens und gegebenenfalls des Berufungsverfahrens abzuwarten, um die ihn belastende Entscheidung über seinen Befangenheitsantrag erst dann dem Bundesverfassungsgericht durch Verfassungsbeschwerde zur Prüfung vorzulegen (2.). [...]

15 Allerdings reicht für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht jede irrtümliche Überschreitung der den Fachgerichten gezogenen Grenzen aus (vgl. BVerfGE 29, 166 <172 f.>). Auch ist nicht jede sonst fehlerhafte Anwendung oder Nichtbeachtung einer einfachgesetzlichen Verfahrensvorschrift zugleich eine Verfassungsverletzung; andernfalls würde die Anwendung einfachen Rechts auf die Ebene des Verfassungsrechts gehoben werden (vgl. BVerfGE 82, 286 <299>; 87, 282 <284 f.>). Die Grenze zur Verfassungswidrigkeit ist erst überschritten, wenn die – fehlerhafte – Auslegung und Anwendung einfachen Rechts willkürlich ist (grundlegend BVerfGE 3, 359 <364 f.>), also in einer bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlichen und offensichtlich unhaltbaren Weise erfolgt (vgl. BVerfGE 29, 45 <49>), oder wenn das Gericht Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl. BVerfGE 82, 286 <299>). Der Grundsatz, dass Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt ist, wenn willkürliche Erwägungen für die Bestimmung des entscheidenden Richters maßgebend waren oder diese auf einer grundlegenden Verkennung von Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG beruht, gilt auch dann, wenn ein Ablehnungsgesuch infolge fehlerhafter Anwendung einfachen Rechts zurückgewiesen wird (vgl. BVerfGE 29, 45 <48 f.> m.w.N.; 31, 145 <164>).

16 b) Hieran gemessen erweist sich die Ablehnung des Befangenheitsantrags des Beschwerdeführers durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 29. April 2020 als offensichtlich unhaltbar und damit willkürlich.

17 Das Verwaltungsgericht hat bei Anwendung der einfachrechtlichen Befangenheitsvorschriften in nicht mehr nachvollziehbarer Weise übergangen, dass sich das Gesuch des Beschwerdeführers nicht als Kritik an der Rechtsmeinung des abgelehnten Richters in der vom Beschwerdeführer in Bezug genommenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 9. August 2019 oder an der Beantwortung der – hier nicht entscheidungsbedürftigen – Rechtsfrage, ob der von der NPD verwendete Slogan den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt, darstellt, sondern dass der Beschwerdeführer die – allesamt nicht entscheidungstragenden – Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Migration zum Anlass für die Richterablehnung nimmt.

18 Diese Ausführungen im Urteil vom 9. August 2019 durften den Beschwerdeführer veranlassen, an der Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters zu zweifeln. Das gilt schon für die ausufernde historische Begründung für die Behauptung, Einwanderung stelle "naturgemäß eine Gefahr für kulturelle Werte an dem Ort dar, an dem die Einwanderung" stattfinde, und den Verweis darauf, dass die bestehende "Gefahr für die deutsche Kultur und Rechtsordnung sowie menschliches Leben" "nicht von der Hand zu weisen" sei. In hervorgehobenem Maße gilt es auch für die Passagen der Urteilsbegründung, in denen das Verwaltungsgericht ausführt, es handele sich bei der Wendung "Migration tötet" um eine empirisch zu beweisende Tatsache, und im Folgenden ihm vermeintlich bekannte Einzelfälle von Asylsuchenden anführt, die im Nachhinein wegen Mordes, anderer Tötungsdelikte oder sonstiger schwerer Straftaten verurteilt wurden. Diese Einzelfälle nimmt das Verwaltungsgericht sodann als Beleg dafür, dass Migration etwas mit Tod und Menschenverachtung zu tun haben könne und dass Zuwanderer durchaus in der Lage seien, Tötungsdelikte und Kapitalverbrechen in Deutschland zu begehen. Damit verengt das Verwaltungsgericht den weitergreifenden Begriff der Migration auf die Gruppe der Asylsuchenden – die indes auf dem zu beurteilenden Wahlplakat keine Erwähnung fand – und stellt aus dieser Gruppe die später mit schweren Straftaten straffällig gewordenen Personen als prägend nicht nur für die Gruppe der Asylsuchenden, sondern für den gesamten Bereich der Migration dar. Vor diesem Hintergrund kommt es zu der Wertung, dass für den Fall, dass der deutsche Staat "einmal in die Handlungsunfähigkeit abrutschen" sollte, "das Recht zum Widerstand aus Art. 20 Abs. 4 GG ohnehin <griffe>". Hinzu kommt schließlich der Umstand, dass die Ausführungen zum Anhörungsmangel im Urteil vom 9. August 2019 – die die Entscheidung für sich genommen tragen würden – nur etwa 15% der Urteilsgründe zur Unbegründetheit der Klage umfassen, während die vom Beschwerdeführer zur Begründung seiner Besorgnis der Befangenheit herangezogenen Passagen etwa 85% umfassen. Damit steht es dem genannten Urteil gleichsam auf die Stirn geschrieben, dass der Richter, der es abgefasst hat, Migration für ein grundlegendes, die Zukunft unseres Gemeinwesens bedrohendes Übel hält.

19 Die genannten und zahlreiche weitere Passagen waren offensichtlich geeignet, Misstrauen des Beschwerdeführers gegen die Unparteilichkeit des abgelehnten Richters zu begründen, insbesondere weil der Beschwerdeführer vor diesen Richter als ein Asylsuchender hätte treten müssen, der Anfang 2016 in das Bundesgebiet eingereist ist und sich daher als Teil jener "Zuwanderungsbewegung nach Deutschland ab dem Jahr 2014/2015" angesprochen sehen durfte, die nach Auffassung des Verwaltungsgerichts im Urteil vom 9. August 2019 zu einer Veränderung innerhalb der Gesellschaft geführt habe, die sowohl zum Tode von Menschen geführt habe als auch geeignet sei, auf lange Sicht zum "Tod" der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu führen. Das Verwaltungsgericht hat in dem angegriffenen Beschluss den Vortrag des Beschwerdeführers zu diesen Aspekten in sachlich nicht mehr nachvollziehbarer Verkennung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG fehlgewichtet. [...]