OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.07.2021 - 3 S 24/21 - asyl.net: M29821
https://www.asyl.net/rsdb/m29821
Leitsatz:

Visum zur Wiedereinreise für subsidiär Schutzberechtigten trotz abgelaufenem Aufenthaltstitel:

1. Eine Person, der durch das BAMF subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, hat grundsätzlich einen Anspruch auf Erteilung eines Visums zur Wiedereinreise aus humanitären Gründen.

2. Dem steht nicht entgegen, wenn der zuvor durch die Ausländerbehörde erteilte Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen aufgrund der Ausreise und eines längeren Auslandsaufenthalts der Person erloschen ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: subsidiärer Schutz, Wiedereinreise, Visum, Erlöschen, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Ausreise, internationaler Schutz, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 7, AufenthG § 25 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 6 Abs. 3 S. 2,
Auszüge:

[...]

Die gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts gerichtete Beschwerde des Antragstellers ist begründet. Unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens (§ 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO) ist die erstinstanzliche Entscheidung zu ändern, weil der Antragsteller glaubhaft gemacht hat, dass ihm mit einer die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigenden hohen Wahrscheinlichkeit ein Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Aufenthalt aus humanitären Gründen zusteht.

Der Anspruch beruht auf § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG in Verbindung mit § 25 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. AufenthG. Danach ist einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge subsidiären Schutz im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG zuerkannt hat. Diese Voraussetzungen sind aufgrund des bestandskräftigen Bescheides des Bundesamtes vom 26. September 2016 erfüllt. Die Statusentscheidung des Bundesamtes ist gemäß § 6 Satz 1 AsylG weiterhin verbindlich, und zwar auch für die Antragsgegnerin im Visumverfahren. Solange das Bundesamt keine abweichende Entscheidung getroffen hat, dürfen andere Behörden - ungeachtet der Möglichkeit, ein Überprüfungsverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anzuregen – den dem Antragsteller zuerkannten subsidiären Schutz nicht mit der Erwägung in Zweifel ziehen, dass er dieses Schutzes nicht mehr bedürfe. [...]

Einer Visumerteilung nach § 25 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. AufenthG steht nicht entgegen, dass sich der Antragsteller derzeit in der Türkei aufhält, auch wenn der Gesetzgeber von einem Aufenthalt im Bundesgebiet als Regelfall ausgegangen sein mag. Der Wortlaut der Vorschrift gibt für die Forderung, dass die Aufenthaltserlaubnis allein im Bundesgebiet beantragt werden könne, nichts her. [...]

Nichts anderes ergibt sich schließlich aus § 51 Abs. 7 AufenthG. Die Vorschrift enthält Sonderregelungen für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, und privilegiert sie gegenüber ausgereisten Ausländern, auf die die Erlöschens-Tatbestände des § 51 Abs. 1 Nr. 6 und Nr. 7 AufenthG anwendbar sind. Diese Regelungen verhalten sich jedoch nicht zu der Frage, unter welchen Umständen einem subsidiär Schutzberechtigten nach seiner Ausreise aus dem Bundesgebiet (erneut) eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist. § 51 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zeigt vielmehr, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Flüchtlinge und Asylberechtigte davon abhängt, ob es wegen der Schutzgewährung in einem anderen Staat weiterhin des Schutzes durch die Bundesrepublik Deutschland bedarf. [...]

Ferner verdeutlicht auch das Gemeinsame Europäische Asylsystem, dass die Bundesrepublik Deutschland in der Verantwortung für Schutzsuchende bleibt, die sie durch die Zuerkennung internationalen Schutzes als Ergebnis eines durchgeführten Asylverfahrens übernommen hat, und zwar grundsätzlich auch dann, wenn sich der Berechtigte nach der Zuerkennung in das (europäische) Ausland begibt. Art. 33 Abs. 2 lit. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Verfahrensrichtlinie) räumt den Mitgliedstaaten der Union die Befugnis ein, einen in ihrem Hoheitsgebiet gestellten Antrag auf internationalen Schutz ohne inhaltliche Prüfung als unzulässig abzulehnen, wenn ein anderer Mitgliedstaat dem Antragsteller bereits internationalen Schutz gewährt hat (s. auch Nr. 43 Satz 2 der Erwägungsgründe zur Richtlinie 2013/32/EU). Diese Regelung, die der deutsche Gesetzgeber in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG umgesetzt hat, wendet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Fall der Sekundärmigration grundsätzlich an und fordert eine Rückkehr der Schutzberechtigten in den Staat der ersten Schutzgewährung, und zwar auch dann, wenn der dort erteilte Aufenthaltstitel bereits abgelaufen ist. Umgekehrt muss ausgereisten Schutzberechtigten, denen im Bundesgebiet internationaler Schutz zuerkannt worden ist, grundsätzlich eine Wiedereinreise ermöglicht werden. Da die Zuerkennung internationalen Schutzes auf das Gebiet des Mitgliedstaates begrenzt ist, der die Anerkennung ausgespro-chen hat (vgl. Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der Europäischen Union, Stand: Februar 2021, AEUV Art. 78 Rn. 25, 31), der Ausländer aber wegen Art. 33 Abs. 2 lit. a RL 2013/32/EU grundsätzlich über keinen Zugang zu einem erneuten Asylverfahren und zu einer Schutzgewährung in einem anderen Mitgliederstaat der Union verfügt, ist er darauf angewiesen, dass ihm derjenige Mitgliedstaat, der ihm den Schutzstatus zuerkannt hat, die ihm nach Kapitel VII der Richtlinie 2011/95/EU eröffneten Vergünstigungen auch tatsächlich zugänglich macht. Anderenfalls befände er sich in einem mit den Zielen der Richtlinien 2011/95/EU und 2013/32/EU nicht zu vereinbarenden Schwebezustand. [...]