OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.05.2021 - 19 A 177/21.A - asyl.net: M29951
https://www.asyl.net/rsdb/m29951
Leitsatz:

Ablehnung eines Beweisantrags zur äthiopischen Staatsangehörigkeit verletzt Anspruch auf rechtliches Gehör:

1. Die Rechtsauffassung des VG Münster, wonach für die Beurteilung der Staatsangehörigkeit Äthiopiens nicht die dortige Rechtspraxis, sondern die nach hiesigen Maßstäben auszulegenden äthiopischen Rechtsnormen maßgeblich sei, wenn diese sich widersprechen, ist mit höherrangigem Recht nicht vereinbar.

2. Indem das VG Münster einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens hinsichtlich der staatsangehörigkeitsrechtlichen Praxis in Äthiopien zurückweist, weil die Auslegung äthiopischer Normen durch das Gericht maßgeblich sei und diese einem Sachverständigenbeweis nicht zugänglich sei, verletzt sie den Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG.

(Leitsätze der Redaktion; vorhergehend: VG Münster, Urteil vom 30.11.2020 - 9 K 2206/17.A - asyl.net: M31054; unter Bezug auf: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.06.2020 - 19 A 1420/19.A - asyl.net: M28656)

Schlagwörter: Äthiopien, Eritrea, Staatsangehörigkeit, Entziehung der Staatsangehörigkeit, Beweisantrag, rechtliches Gehör, Berufungszulassung, Staatsangehörigkeitsbegriff, verfahrensrechtliche Rechtsauffassung
Normen: GG Art. 103 Abs. 1, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3, VwGO § 138 Nr. 3, VwGO § 108 Abs. 2, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Der mit diesem Streitgegenstand anhängig gewordene Berufungszulassungsantrag ist zulässig und begründet. Die Berufung ist wegen eines dargelegten Gehörsverstoßes nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Das Verwaltungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO dadurch verletzt, dass es die ersten drei seiner in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsbeweisanträge auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zu Fragen des Verlusts der äthiopischen Staatsangehörigkeit durch einen Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit mit einer prozessrechtswidrigen Begründung abgelehnt hat.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO gebietet die Berücksichtigung von Beweisanträgen, die sich auf Tatsachen beziehen, welche nach der materiellen Rechtsauffassung des Tatsachengerichts entscheidungserheblich sind. Die Ablehnung oder Nichtberücksichtigung solcher Anträge verletzt Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht objektiv keine Stütze findet [...].

Hier hat das Verwaltungsgericht die Ablehnung der drei genannten Hilfsbeweisanträge im angefochtenen Urteil damit begründet, ihnen sei vor dem Hintergrund der Rechtsauffassung des Gerichts nicht nachzugehen, dass im Rahmen der Prüfung des ausländischen Staatsangehörigkeitsrechts im Falle eines Widerspruchs zwischen ausländischer Rechtspraxis und ausländischen (geschriebenen) Rechtsnormen allein die jeweiligen Rechtsnormen maßgeblich seien, die insoweit auch keinem Sachverständigenbeweis zugänglich seien. [...]

Hier beruhte die vom Verwaltungsgericht angenommene Unerheblichkeit der unter Beweis gestellten Tatsachen erklärtermaßen auf seiner verfahrensrechtlichen Rechtsauffassung, das äthiopische  Staatsangehörigkeitsrecht selbst auslegen und auf seine Vereinbarkeit mit dem "höherrangigen" äthiopischen Verfassungsrecht überprüfen zu dürfen, nicht hingegen auf einem hiervon unabhängigen materiellrechtlichen Verständnis etwa des Herkunftsland- oder Staatsangehörigkeitsbegriffs in § 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylG oder des vorliegend entscheidungserheblichen Inhalts des äthiopischen Staatsangehörigkeitsrechts an sich. Das Verwaltungsgericht hat ausdrücklich an seiner verfahrensrechtlichen Rechtsauffassung festgehalten, dass eine Rechtspraxis, die im Widerspruch zu den gültigen Rechtsnormen des jeweiligen Staates stehe, für das Gericht als deutsches staatliches Gericht im Rahmen der Prüfung der ausländischen Staatsangehörigkeit nicht verbindlich sei (VG Münster, a.a.O., Rn. 29 ff.).

Diese Rechtsauffassung ist verfahrensrechtlicher Natur, weil sie die Art und Weise der richterlichen Ermittlung des Inhalts ausländischen Rechts betrifft. Insoweit liegt der Fall hier anders als bei einer Zugrundelegung einer - möglicherweise verfehlten - materiell-rechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichts; denn auch die Zugrundelegung eines falschen materiell-rechtlichen Rechtsstandpunkts kann die Ablehnung eines Beweisantrags als unerheblich tragen. Verkennt das Verwaltungsgericht hingegen schon die Reichweite dessen, was als (hier: ausländische Rechts-)Tatsache der Beweiserhebung zugänglich (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Juli 2012 - 10 C 2.12 -, BVerwGE 143, 369, juris, Rn. 14) und was als Rechtsanwendung der Beweiserhebung entzogen ist, liegt ein verfahrensrechtlicher Fehler vor, der einer Beweisantragsablehnung als unerheblich die prozessuale Stütze entzieht. Die genannte Rechtsauffassung ist, wie der Senat bereits festgestellt hat, unvereinbar mit dem in der ständigen höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung insbesondere zum Staatsangehörigkeits-, Asyl-, Ausländer- und Personenstandsrecht anerkannten Grundsatz der größtmöglichen Annäherung an das ausländische Recht. [...]

Der Senat hat keine Veranlassung zu einer erneuten Überprüfung dieser Feststellungen, zumal die zitierte Grundsatzentscheidung des Senats rechtskräftig ist und das Verwaltungsgericht sein Festhalten an seiner Gegenauffassung, die normativen Bestimmungen des Staatsangehörigkeitsrechts der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien sowie des Staates Eritrea seien einer - dem deutschen Recht entsprechenden - Auslegung nach Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck zugänglich, nur mit einem einzigen Satz und ohne Auseinandersetzung mit der Argumentation der genannten anderslautenden ständigen höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung begründet hat (VG Münster, a.a O., Rn. 33). [...]