SG Stade

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Zitieren als:
SG Stade, Beschluss vom 26.08.2021 - S 5 AY 5/21 ER - asyl.net: M30047
https://www.asyl.net/rsdb/m30047
Leitsatz:

Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Anspruchseinschränkungen nach dem AsylbLG:

1. Es besteht eine für den Erlass einer einstweiligen Anordnung hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die Anspruchseinschränkungen nach § 1a Abs. 3 AsylbLG verfassungswidrig sind.

2. Das Grundgesetz sieht vor, den in der Bundesrepublik lebenden Personen neben dem physischen Existenzminimum auch ein soziokulturelles Existenzminimum zu gewährleisten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Existenzminimum, soziokulturelles Existenzminimum, Verfassungsmäßigkeit, Leistungskürzung, Mitwirkungspflicht, Passbeschaffung, Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, Analogleistungen, Sozialrecht,
Normen: AsylbLG § 1a Abs. 3, SGG § 86b Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

Es liegt ein Anordnungsgrund vor. Der Antragsteller hat die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile hinreichend glaubhaft gemacht. Er begehrt höhere Leistungen zur Deckung seines monatlichen Existenzbedarfs über den rein physischen Bedarf hinaus. Der Bedarf für die monatliche Existenzsicherung fällt immer aktuell an. Eine spätere Entscheidung kann den Nachteil einer laufenden Bedarfsunterdeckung nicht mehr beseitigen.

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht. Es besteht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass in der Sache ein gegebener materieller Leistungsanspruch nach § 3 AsylbLG besteht.

Zwar liegt der Tatbestand der Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG in der Fassung vom 15.08.2019 vor, da beim Antragsteller aus von ihm selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, indem er nicht ausreichend an einer Passbeschaffung mitwirkt. Zwar wird angegeben, dass der Antragsteller versucht habe, bei der iranischen Botschaft einen Pass zu erhalten. Dies ist jedoch nicht ausreichend glaubhaft gemacht worden. Da der Antragsteller vollziehbar ausreisepflichtig ist, liegt auch kein anderes Abschiebehindernis vor. Die Rechtsfolge nach § 1a Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 AsylbLG regelt auch eindeutig eine Absenkung des Anspruchs auf das physische Existenzminimum. Danach erhalten diese Personen nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege. Nur soweit im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, können noch andere Leistungen im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG gewährt werden. Besondere Umstände des Einzelfalls sind vorliegend nicht vorgetragen worden.

Dennoch besteht die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller in der Hauptsache höhere Leistungen erhält, da zweifelhaft ist, ob die Absenkung auf das physische Existenzminimum verfassungsgemäß ist. Das Gericht selbst hat zwar in vergleichbaren Klageverfahren nicht die Überzeugung gewinnen können, dass die Vorschrift verfassungswidrig ist. Bezüglich der Feststellung, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Leistungsanspruchs vorliegt, kommt es jedoch nicht nur auf das erkennende Gericht, sondern den gesamten Instanzenzug an. Da derzeit keine abschließenden höchstrichterlichen Entscheidungen vorliegen, ist es unter Berücksichtigung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 (Az: 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11) hinreichend wahrscheinlich, dass die Rechtsfolge des neuen § 1a Abs. 4 AsylbLG verfassungswidrig ist. Dies ergibt sich daraus, dass dem Antragsteller nur noch das physische Existenzminimum gewährt wird. Auch wenn die Verfassung nicht die Gewährung von bedarfsunabhängigen voraussetzungslosen Sozialleistungen gebietet (vgl. Bundesverfassungsgericht vom 7. Juli 2010 - 1 BvR 2556/09) ist den hier lebenden Personen unabhängig vom Aufenthaltsrecht neben dem physischen Existenzminimum immer auch ein soziokulturelles Existenzminimum zu gewähren. Auch wenn die Kammer in dem Hauptsacheverfahren nicht die Überzeugung gewinnen kann, dass die Leistungseinschränkung verfassungswidrig ist, besteht zurzeit eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass das LSG oder BSG das Verfahren aussetzt und dem Bundesverfassungsgericht vorlegt. Sollte das Bundesverfassungsgericht die abgesenkten Leistungen für evident unzureichend halten, würde es selbst einen höheren Wert vorgeben oder die Rechtsfolge der Vorschrift verwerfen, so dass dies auch Auswirkungen auf das Hauptsacheverfahren hätte. Daneben besteht die Möglichkeit, dass das LSG oder BSG die Ermessensleistungen nach § 1a Abs. 2 Satz 3 AsylbLG dahingehend verfassungskonform auslegen, dass dem betroffenen Leistungsempfänger Leistungen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG zumindest als Sachleistung gewährt werden müssen. [...]