LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 04.02.2021 - L 8 AY 118/20 B ER - asyl.net: M30063
https://www.asyl.net/rsdb/m30063
Leitsatz:

Analogleistungen trotz fehlender Identitätsdokumente:

1. Die Dauer des Aufenthalts wird nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst, wenn eine unmögliche Mitwirkungshandlung (hier: Beschaffung von Identitätsdokumenten) nicht erfüllt wird.

2. Eine wahrscheinlich staatenlose Roma-Familie aus dem  Kosovo/aus Serbien, die nicht über Identitätsdokumente verfügt und diese auch nicht beschaffen kann, da keines der Familienmitglieder im Herkunftsstaat behördlich registriert ist, hat daher Anspruch auf Analogleistungen.

3. Eine fehlende behördliche Registrierung ist bei Roma aus Kosovo/Serbien nicht unüblich.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Kosovo, Serbien, Jugoslawien, Roma, Mitwirkungspflicht, Passbeschaffung, Personenstandsurkunde, Registrierung, Sozialrecht, Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungskürzung, Analogleistungen,
Normen: AsylbLG § 2,
Auszüge:

[...]

Den Antragstellern kann nach summarischer Prüfung auf der Grundlage des gegenwärtigen Sach- und Streitstandes nicht vorgeworfen werden, dass sie die Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland rechtsmissbräuchlich im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG selbst beeinflusst haben.

Dies gilt für die erst am … 2020 volljährig gewordene Antragstellerin zu 3 sowie die erst zwölf, elf bzw. sechs Jahre alten Antragsteller zu 4 bis 6 schon deshalb, weil ihnen wegen der von § 2 Abs. 1 AsylbLG verlangten "Selbstbeeinflussung" der Aufenthaltsdauer ein rechtsmissbräuchliches Verhalten ihrer Eltern, der Antragsteller zu 1 und 2, nicht zurechenbar ist und ihnen eigenes vorsätzlich rechtsmissbräuchliches Verhalten nicht vorgeworfen werden kann. Dies hat das SG mit zutreffender Begründung, auf die verwiesen wird, näher ausgeführt. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist ein Anspruch der Antragsteller zu 3 bis 6 nach § 2 Abs. 1 AsylbLG auch nicht von einem solchen Anspruch der Antragsteller zu 1 und 2 abhängig. Mit der von dem Antragsgegner hierzu genannten nicht existenten Vorschrift des § 2 Abs. 6 AsylbLG dürfte § 2 Abs. 3 AsylbLG gemeint sein. Danach erhalten minderjährige Kinder, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Haushaltsgemeinschaft leben, Leistungen nach Abs. 1 auch dann, wenn mindestens ein Elternteil in der Haushaltsgemeinschaft Leistungen nach Abs. 1 erhält. Das AsylbLG hat die Ansprüche von Leistungsberechtigten als Individualansprüche (nicht: der Familie bzw. der Haushaltsgemeinschaft) wie auch im SGB XII ausgestaltet. Minderjährige Kinder müssen die Voraussetzungen von § 2 Abs. 1 AsylbLG daher jeweils selbst erfüllen (Aufenthaltsstatus, Wartezeit, keine Rechtsmissbräuchlichkeit). § 2 Abs. 3 AsylbLG in seiner bis zum 28.2.2015 geltenden Fassung bezweckte dennoch einheitliche Leistungsansprüche nach dem AsylbLG innerhalb der Familie bzw. der Haushaltsgemeinschaft. Er schaffte eine Leistungsabhängigkeit zwischen minderjährigen Kindern und ihren Eltern bzw. einem Elternteil auf das abgesenkte Niveau von Grundleistungen, wenn sie mit ihnen in einer Haushaltsgemeinschaft lebten und Leistungen nach den AsylbLG bezogen. Die mit Wirkung vom 1.3.3015 in Kraft getretene jetzige Regelung, mit der in § 2 Abs. 3 AsylbLG das Wort "nur" durch die Worte "auch dann" ersetzt wurde, hat den ehemaligen Normzweck allerdings zugunsten minderjähriger Kinder maßgeblich erweitert. Minderjährige Kinder, wenn sie - anders als hier - in eigener Person die Leitungsvoraussetzungen von § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht bereits erfüllen, können die privilegierten Leistungen gleichwohl "auch dann" beanspruchen, wenn mindestens ein in Haushaltsgemeinschaft lebender Elternteil in eigener Person privilegierte Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG erhält (vgl. Oppermann/Filges in jurisPK-SGB XII, § 2 AsylbLG (Stand: 5.1.2021) Rn. 241 und 252 m.w.N.). Dieser ganz h. M. zur Auslegung des§ 2 Abs. 3 AsylbLG hatte sich der Antragsgegner in einem anderen Eilverfahren aus 2019 auf gerichtlichen Hinweis auch bereits angeschlossen{- L 8 AY 14/19 B ER -).

Nach der Rechtsprechung des BSG (grundlegend: Urteil vom 17.6.2008 - B 8/9b AY 1/07 R - juris Rn. 32 ff.) setzt ein rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG in objektiver Hinsicht ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus, das in subjektiver Hinsicht vorsätzlich im Bewusstsein der objektiv möglichen Aufenthaltsbeeinflussung getragen ist. Dabei genügt angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wiegen für den Ausländer so schwer, dass auch der Pflichtverletzung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Daher kann nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), zum Ausschluss von Analog-Leistungen führen. Die Angabe einer falschen Identität stellt einen typischen Fall des Rechtsmissbrauchs dar (BSG, a.a.O., Rn. 34 ). Eine Ausnahme ist zu machen, wenn eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können (BSG, a.a.O., Rn. 44). Die objektive Beweislast für ein rechtsmissbräuchliches Verhalten trägt der Leistungsträger (Oppermann/Filges, a.a.O., Rn. 140 ff.).

Davon ausgehend ist nach summarischer Prüfung auf der Grundlage des gegenwärtigen Sach- und Streitstandes überwiegend wahrscheinlich, dass sich - was zu Lasten des die materielle Beweislast tragenden Antragsgegners gehen wird - im Hauptsachverfahren nicht wird feststellen lassen, dass die Antragsteller zu 1 und 2 die Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Der Senat folgt der Begründung des SG und sieht insoweit gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Ergänzend bleibt lediglich auszuführen: Auch der Senat vermag keine objektiven Anhaltspunkte dafür zu erkennen, dass die Antragsteller zu 1 und 2 durch Angabe falscher Namen, Geburtstage und -orte über ihre Identität getäuscht haben, zumal sie offenbar bei ihrem vorangegangenen Aufenthalt in der Schweiz im dortigen Asylverfahren die gleichen Angaben gemacht haben. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten begründender Verstoß gegen ihre Mitwirkungspflichten läge sicherlich dann vor, wenn sie - was der Antragsgegner annimmt - über Pässe, Geburtsurkunden oder andere Identitätspapiere verfügen, diese aber nicht vorlegen. Ebenso rechtsmissbräuchlich wäre es, wenn die Beschaffung von Identitätspapieren möglich wäre, sie die Papiere aber nicht beschaffen oder nicht ausreichend an der Beschaffung mitwirken. Weder das eine noch das andere wird sich aber wahrscheinlich feststellen lassen. Der Antragsteller zu 1 hat bei seiner Anhörung im Asylverfahren im September 2015 auf den Vorhalt, er habe doch irgendwann sicher einmal in seinem Leben Personalpapiere besessen, erklärt, er habe nie im Leben einen Personalausweis oder einen Reisepass besessen. Auf weitere Nachfrage hat er erklärt, sie als Roma hätten gar keine Papiere besessen. Das sei nicht so wichtig für sie gewesen. Als der Krieg angefangen habe, seien sie dann einfach abgehauen. Auch heute gebe es Roma in Serbien, die dort ohne jegliche Papiere lebten. Die Antragstellerin zu 2 hat damit übereinstimmend bei ihrer Anhörung angegeben, sie hätten keinerlei Personalpapiere und man wolle sie im Kosovo nicht haben. Sie seien dort gewesen und hätten nach ihren Rechten gefragt. Sie hätte die Adresse genannt, wo sie und die Eltern gelebt hätten. Man habe ihnen aber erklärt, sie seien nirgendwo im Register aufgeführt und sie hätten kein Grundstück und keine Rechte, sodass sie nicht im Kosovo leben dürften. Diese Angaben sind nicht unplausibel. Sie stehen hinsichtlich der Situation im Kosovo im Einklang mit den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Personen aus dem Kosovo vom 9.11.2009 (UNHCR Kosovo Richtlinien Nov09 dt. einwanderer.net), in denen unter II. 4. (Seite 12 und 13) zu Personaldokumenten aufgeführt ist, dass viele im Kosovo lebende Kosovo-Roma nicht registriert sind und/oder ihren Personenstand nicht dokumentieren können. Ohne die erforderlichen Dokumente könnten Kosovo-Roma und andere in einer vergleichbaren Lage befindliche Minderheiten die Voraussetzungen für eine Registrierung nicht erfüllen. Diese Situation könne zu Staatenlosigkeit und dem Ausschluss aus dem politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben führen. Hinsichtlich der Registrierung liege das Problem der Minderheiten darin, die Dokumentationsanforderungen der Behörden zu erfüllen. Der Nachweis der erforderlichen Dokumente sei für viele Antragsteller eine Herausforderung. Zahlreiche Kosovo-Roma hätten entweder nie Personaldokumente besessen oder diese verloren. Teilweise seien die Dokumente auch vernichtet worden. Außerdem seien viele amtliche Aufzeichnungen im Kosovo nicht mehr verfügbar, da die Meldebücher nach Serbien verbracht bzw. im Zuge des Konflikts im Jahre 1999 beschädigt und/oder vernichtet worden seien. Ähnlich wird die Situation der Roma in Serbien beschrieben (Tijana Joksic, Belgrad/Freiburg: Die Diskriminierung von Roma in Serbien. Staatliche Reaktionen und Maßnahmen, Seite 2, 5 und 6 m.w.N.; www.aktionbleiberecht.de/blog/wp-content/uploads/2016/05/2015-05-Tijana_Joksic_Roma_Discrimination_Dt-Fassung.pdf): Es gebe ungefähr 45.000 binnenvertriebene Roma aus dem Kosovo, wovon nur die Hälfte offiziell registriert sei. Es werde vermutet, dass die Mehrheit der rechtlich unsichtbaren, ausweispapierlosen Menschen Roma seien. Aufgrund fehlender Rechtsdokumente und Ausweispapiere seien sie de facto staatenlos, was es erheblich erschwere, ihre Rechte als Staatsbürger geltend zu machen. Das Problem habe vielfältige Ursachen, wie etwa das Fehlen eines offiziellen Melderegisters und einer rechtlich anerkannten Meldeadresse, ein Mangel an Informationen über die Verfahrensweisen sowie an finanziellen Mitteln zur Bezahlung der erforderlichen Gebühren, die im Kosovo vernichteten Melderegister, die institutionelle Diskriminierung gegenüber den Roma und langwierige komplizierte Verwaltungsvorgänge. Ein Nichtmitwirken der Antragsteller bei der Beschaffung von Identitätspapieren lässt sich vor diesem Hintergrund nicht feststellen. Zwar weist der Antragsgegner zutreffend darauf hin, dass die Angaben der Antragsteller zu 1 und 2 in von ihnen im Herbst 2019 ausgefüllten Fragebögen zur Identitäts- und Staatsangehörigkeitsklärung teilweise von den von ihnen in den gleichen Fragebögen im Herbst 2016 gemachten Angaben abweichen. Weitgehend - insbesondere zu ihnen selbst - stimmen die Angaben aber überein und hinsichtlich der Abweichungen - zu denen sie nicht befragt worden sind - ist nicht klar, ob sie vorsätzlich oder versehentlich aufgrund von nicht fernliegenden Übersetzungs- und/oder Verständnisfehlern bei dem Ausfüllen der Formulare (im Herbst 2016 erfolgte es offenbar mit Hilfe aus dem Büro des damaligen Prozessbevollmächtigten und im Herbst 2019 mit Hilfe eines Sprachmittlers) zurückzuführen sind. Als ein den Ausschluss von Analogleistungen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit rechtfertigendes unentschuldbares und sozialwidriges Verhalten lassen sich die Angaben der Antragsteller zu 1 und 2 zu ihrer und der Identität der Kinder daher gegenwärtig nicht bewerten. [...]