VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 30.06.2021 - 10 A 1788/19 - asyl.net: M30066
https://www.asyl.net/rsdb/m30066
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Konversion zum Sufismus im Iran:

"[...]

1. Das Bekenntnis bzw. die mit einer Abkehr vom Islam verbundene Konversion zu einer sufistischen Glaubensüberzeugung kann in Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer gemäß §§ 3 ff. AsylG (juris: AsylVfG 1992) relevanten Verfolgung führen. Eine flüchtlingsschutzrechtlich erhebliche Verfolgungsgefahr besteht für bekennende Sufis und besonders für Gonabadi-Derwische, die ihre Glaubensüberzeugung nach außen erkennbar praktizieren und sich hierdurch vom schiitischen Islam staatlich-iranischer Prägung abgrenzen (Rn. 27).

2. Ein bloß formales bzw. inneres Bekenntnis zu einer sufistischen Glaubensüberzeugung genügt nicht für die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung. Aus den Erkenntnisquellen ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass die Zugehörigkeit zu einem Sufi-Orden (hier: Nematollahi-Gonabadi-Orden) ohne nach außen tretende individuelle oder gemeinschaftliche Glaubensbetätigung den Betroffenen schon für sich genommen einer Verfolgungsgefahr aussetzt (Rn.28)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Iran, Konvertiten, Sufismus, Nematollahi-Gonabadi-Orden, Gonabadi-Orden,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

26 a) Das Gericht geht unter Berücksichtigung der eingeführten Erkenntnisquellen davon aus, dass das Bekenntnis bzw. die mit einer Abkehr vom Islam verbundene Konversion zum Sufismus in Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer gemäß §§ 3 ff. AsylG relevanten Verfolgung führen kann.

27 Aus dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 5. Februar 2021 geht hervor (S. 13 [2021/1]1; im Folgenden: Lagebericht), dass Sufis in iranischen Medien gelegentlich als Teufelsanbeter stigmatisiert und vereinzelt auch Opfer gewaltsamer Übergriffe werden. Obwohl der Gonabadi-Orden als größter iranischer Sufi-Orden zur Schia zähle, würden seine Mitglieder regelmäßig verfolgt und verhaftet, da sie jede Form des für die Islamische Republik Iran konstitutiven politischen Islam ablehnten (vgl. hierzu auch Güntemur, Kurzrecherche zur Situation von Gonabadi-Derwischen in Iran v. 18.5.2021, S. 2 f. [G 15/21]; im Folgenden: Kurzrecherche). Dem entspricht die Einschätzung der Bundesregierung, wonach Angehörige verschiedener Sufi-Gruppierungen in Iran Opfer von gezielter Propaganda sind. Insbesondere Anhänger des Gonabadi-Ordens würden wegen ihrer Unterstützung für den Reformer und früheren Präsidentschaftskandidaten Mehdi Karroubi als "Soldaten der Intrige" dargestellt. Aufgrund ihrer regimekritischen Haltung und ihres Einsatzes für soziale Belange und Menschenrechte würden sie "immer wieder verfolgt und verhaftet" (BT-Drucks. 19/7879, S. 7 [G 34/19]). Auch das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl berichtet von Repressionen gegenüber Derwischen (siehe Länderinformationsblatt Iran, Stand: 29.1.2021, S. 56 [G 5/21]): Ihre Gemeinden sähen sich vielfältigen Diskriminierungen, willkürlichen Festnahmen und Angriffen bis hin zur Zerstörung ihrer Gotteshäuser ausgesetzt. Nach gewalttätigen Protesten im Februar 2018 seien über 200 Gonabadi-Derwische zu Haft- und Körperstrafen verurteilt worden; zahlreiche Derwische befänden sich weiterhin in Haft und stünden u.a. wegen des Vorwurfs der "Zusammenkunft und Konspiration zur Planung von Verbrechen gegen die nationale Sicherheit" unter Anklage. Insgesamt ist den Erkenntnisquellen zu entnehmen, dass vor allem Gonabadi-Derwische in Iran umfassend diskriminiert werden und von systematischer Verfolgung betroffen sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 5 [2021/1]; auch Bundesamt, Erkenntnisse Iran: Allgemeines – Innenpolitik – Proteste und Demonstrationen – Religiöse Minderheiten – Todesstrafe, Stand: April 2019, S. 8 [G 2/19]; Amnesty International, Amnesty Report Iran 2020, S. 7 [G 11/21]). Diese allgemeine Gefahrenlage kann sich nach Einschätzung des Gerichts im Einzelfall zu einer flüchtlingsschutzrechtlich erheblichen Verfolgungsgefahr verdichten. Eine solche besteht für bekennende Sufis und besonders für Gonabadi-Derwische, die ihre Glaubensüberzeugung nach außen erkennbar praktizieren und sich hierdurch vom schiitischen Islam staatlich-iranischer Prägung abgrenzen.

28 Ein bloß formales bzw. inneres Bekenntnis zu einer sufistischen Glaubensüberzeugung genügt danach nicht für die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung. Aus den Erkenntnisquellen ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass die Zugehörigkeit zu einem Sufi-Orden ohne nach außen tretende individuelle oder gemeinschaftliche Glaubensbetätigung den Betroffenen schon für sich genommen der Gefahr aussetzt, Diskriminierungen oder Willkürmaßnahmen der genannten Art zu erleiden (siehe Güntemur, Kurzrecherche, S. 4 f. [G 15/21]). Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt vielmehr eine echte Glaubensentscheidung des Schutzsuchenden voraus, die im Fall einer Rückkehr trotz der in Iran drohenden Nachteile und Gefahren Bestand hätte und erwarten lässt, dass der Betroffene an seinem (neuen) Glauben festhält und diesen auch in Iran praktizieren will. Es muss – so auch vorliegend – fest - gestellt werden können, dass das Bekenntnis des Schutzsuchenden zu seinem Glauben auf einer ernst gemeinten religiösen Einstellung mit festen, identitätsprägenden Überzeugungen und nicht bloß auf Opportunitätserwägungen beruht. Denn nur wenn die Glaubenszugehörigkeit bzw. der Glaubenswechsel die religiöse Identität des Schutzsuchenden prägt, ist es ihm nicht zumutbar, seine (neue) Glaubenszugehörigkeit im Herkunftsland zur Vermeidung staatlicher oder nichtstaatlicher Repressionen zu verschweigen, zu verleugnen oder aufzugeben (vgl. für den Fall einer Konversion zum Christentum OVG Hamburg, Urt. v. 11.9.2012, 5 Bf 336/04.A, juris Rn. 48). Sich hierzu gezwungen zu sehen, würde den Schutzsuchenden in aller Regel existenziell in seiner sittlichen Person treffen und ihn in eine ausweglose, unzumutbare Lage bringen (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 26.7.2007, 8 UE 3140/05.A, juris Rn. 20). Auch ein unter dem Druck der Verfolgungsgefahr geübter Verzicht auf die Glaubensbetätigung kann insofern eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit darstellen und als solche die Qualität einer Verfolgung erreichen (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 12.4.2021, 2 Bf 51/21.AZ, n.v.). [...]

30 b) In Anwendung dieser Grundsätze ist der Berichterstatter zu der Überzeugung gelangt, dass sich die Klägerin in einer ihre religiöse Identität prägenden Weise dem Sufismus zugewandt hat und ihren Glauben als Mitglied des Nematollahi-Gonabadi-Ordens ausübt. [...]

34 Insgesamt ist der Berichterstatter davon überzeugt, dass die Klägerin ihre Konversion im Fall einer Rückkehr nach Iran nicht verheimlichen bzw. auf die Ausübung ihrer sufistischen Glaubensüberzeugung allenfalls unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungenermaßen verzichten würde. [...]