OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 03.06.2021 - 3 B 164/21 - asyl.net: M30089
https://www.asyl.net/rsdb/m30089
Leitsatz:

Keine „Duldung light“, wenn Behörde Mitwirkungsverpflichtungen nicht konkretisiert:

1. Die libanesische Botschaft in Berlin stellt grundsätzlich einen libanesischen Nationalpass nur aus, wenn eine gültige Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik vorliegt oder eine solche bei Vorlage eines Reisepasses erteilt werden kann.

2. Auch libanesische Staatsangehörige, die weder eine Aufenthaltserlaubnis noch eine Erteilungszusage der deutschen Behörden besitzen, kommen ihren Mitwirkungspflichten durch einen Antrag auf Ausstellung eines Nationalpasses jedenfalls dann ausreichend nach, wenn die zuständige Ausländerbehörde für den Passantrag eine Bescheinigung zur Vorlage bei der Botschaft ausstellt und nicht zu erkennen gibt, dass neben dem Passantrag noch weitere Bemühungen erforderlich sind.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Duldung für Personen mit ungeklärter Identität, Mitwirkungspflicht, Passbeschaffung, Libanon, Botschaft, Passersatz, Pass, Nationalpass,
Normen: AufenthG § 48 Abs. 3, AufenthG § 60b Abs. 2 S. 1, AufenthG § 60b Abs. 3 Nr. 3, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

10 Es erscheint überwiegend wahrscheinlich, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ohne den Zusatz "Duldung für Personen mit ungeklärter Identität" und daher auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat.

11 [...] Nach § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer, der keinen gültigen Pass oder Passersatz besitzt, verpflichtet, alle ihm unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbaren Handlungen zur Beschaffung eines Passes oder Passersatzes selbst vorzunehmen. § 60b Abs. 3 Satz 1 AufenthG listet die Handlungen, welche dem Ausländer regelmäßig zumutbar sind, im Einzelnen auf. Auf diese Pflichten ist der Ausländer nach § 60b Abs. 3 Satz 2 AufenthG hinzuweisen, wobei eine bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts hierfür in der Regel nicht genügt (Funke-Kaiser, a.a.O. Rn. 25; Eichler/Mantel, a.a.O. Rn. 15). Die Behörde hat vielmehr die im Einzelfall erwartbaren und zumutbaren Mitwirkungshandlungen zu konkretisieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 26. Oktober 2010 - 1 C 18/09 -, juris Rn. 17; OVG LSA, Beschl. v. 23. Oktober 2018 - 2 M 112/18 -, juris Rn. 19, und Beschl. v. 18. September 2019 - 2 M 79/19 -, juris Rn. 19; Eichler/Mantel a.a.O.; ähnlich: Funke-Kaiser, a a.O. Rn. 25, der sich für eine inhaltliche Umschreibung und anschauliche Darstellung der Pflichten für den Laien ausspricht; Hailbronner [a.a.O. Rn. 62] betont, dass es keine Beratungspflicht über das Verfahren und die gesetzlichen Regelungen des Heimatstaats gäbe und dem Ausländer eine Erkundigungspflicht obliege). Das gilt zumindest, wenn sich ein bestimmtes Verhalten nicht bereits aufdrängen muss oder dem Ausländer nicht wenigstens hinreichend erkennbar ist, was er konkret zu unternehmen hat. Die Behörde ist regelmäßig angesichts ihrer organisatorischen Überlegenheit und Sachnähe besser in der Lage, die bestehenden Möglichkeiten zu erkennen und die erforderlichen Schritte in die Wege zu leiten (vgl. BayVGH, Urt. v. 15. November 2006 - 24 B 06.1700 -, juris Rn. 62 ff., und Beschl. v. 2. Mai 2019 - 10 CE 19.273 -, juris Rn. 6; VGH BW, Urt. v. 3. Dezember 2008 - 13 S 2483/07 -, juris Rn. 32; OVG LSA, Beschl. v. 23. Oktober 2018 a.a.O.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 7. November 2019 - OVG 3 S 111.19 -, juris Rn. 5). Nach § 60b Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann der Ausländer die zumutbaren Handlungen nach § 60b Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AufenthG jederzeit nachholen und so die Verletzung seiner Mitwirkungspflicht heilen.

12 Ausgehend von diesen Maßstäben ist dem Antragsteller derzeit nicht vorzuwerfen, dass er nicht alle ihm zumutbaren Handlungen zur Erfüllung seiner Mitwirkungspflicht vorgenommen hat. Dabei geht der Senat ungeachtet seiner seit der ersten Aufforderung zur Mitwirkung am 23. Juli 2019 zunächst überhaupt nicht und dann nur zögerlich, jedenfalls keinesfalls zielstrebigen Bemühungen zur Erlangung eines Passes davon aus, dass er jedenfalls am 13. Januar 2021 auf dem Postweg bei der libanesischen Botschaft in B. wirksam einen Reisepass beantragt hat. Soweit das Verwaltungsgericht davon ausgegangen ist, dass es sich dabei um eine ungeeignete Mitwirkungshandlung gehandelt hat, da der Antragsteller seit März 2020 davon ausgehen haben müsse, dass er einen Pass bei der Botschaft nicht mit Erfolg werde beantragen können, folgt dem der Senat im vorliegenden Einzelfall nicht. Grundsätzlich hat das Verwaltungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass nach den Grundsätzen der Botschaft des Libanon in B. zur Beantragung eines Libanesischen Nationalpasses eine gültige Aufenthaltserlaubnis oder aber die Aussage, dass eine solche bei Vorlage eines Passes erteilt werden könne, erforderlich ist. Dies war dem Antragsteller, wie vom Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, auch grundsätzlich bekannt. Allerdings erscheint es vorliegend nach Aktenlage überwiegend wahrscheinlich, dass der Antragsteller in der Folgezeit dennoch davon ausgehen durfte, dass eine Mitwirkung in Form der Beantragung eines Reisepasses ausreichend ist, um den in § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG umschriebenen Pflichten gerecht zu werden. Denn offenbar ging selbst die Antragsgegnerin - jedenfalls bis zum 21. Januar 2021 - nicht davon aus, dass ein Antrag auf Ausstellung eines Reisepasses von vornherein aussichtslos ist. Denn anders erklärt es sich nicht, dass sie dem Antragsteller am 20. Juli 2020 eine Bescheinigung zur Vorlage bei der Botschaft ausgestellt hat, in welcher dem Antragsteller bescheinigt wird, dass dieser "einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gestellt" habe und dieser einen Pass benötige, um über den Antrag entscheiden zu können. Diese Bescheinigung konnte, da ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis durch den Antragsteller nach Aktenlage überhaupt nicht gestellt war, wohl nur den Sinn haben, die o. g. Voraussetzungen der Botschaft des Libanon zur Ausstellung eines Reisepasses zu erfüllen. Auch in der Folgezeit hat die Antragsgegnerin den Antragsteller zwar mehrfach durch ihr standarisiertes Schreiben zur Beantragung eines Passes oder Passersatzes aufgefordert, im persönlichen Gespräch sich aber ausdrücklich nur nach dem Stand der Bemühungen der Passbesorgung erkundigt und hier - in dem Wissen, dass sich der Antragsteller nur um einen Pass und kein Ersatzdokument bemüht - bis zum 21. Januar 2021 nicht im Ansatz zu erkennen gegeben, dass sie dies als nicht ausreichend ansehen würde. Unabhängig von der Frage, ob die Antragsgegnerin den Antragsteller von vornherein auf die Möglichkeit der Beantragung eines Heimreisedokuments hinweisen musste oder ob die Einholung entsprechender Informationen dem Pflichtenkreis des Ausländers zuzurechnen ist, hat hier die Antragsgegnerin Handlungen vorgenommen, welche den Antragsteller in die begründete Hoffnung versetzen durften, dass ihm die libanesische Botschaft einen Pass ausstellen würde. Dafür, dass diese Annahme nicht völlig unzutreffend ist, spricht auch, dass die Botschaft den Antragsteller zwischenzeitlich zur Beglaubigung der Unterschrift unter seinen Passantrag aufgefordert hat. Dass die Botschaft bei offensichtlich unzulässigen, weil nicht mit allen für die Antragstellung erforderlichen Dokumenten versehenen Anträgen entsprechend verfährt, erscheint dem Senat eher unwahrscheinlich. Daher steht auch der Umstand, dass die Antragsgegnerin den Antragsteller am 21. Januar 2021 explizit zur Beantragung eines Heimreisedokuments aufgefordert hat, wogegen sie sich durch erneute Versendung ihres darauf nicht eingehenden standardisierten Schreibens vom 27. Januar 2021 möglicherweise aber auch in gewisser Weise in Widerspruch setzte, der Erteilung einer Duldung ohne den Zusatz "Duldung für Personen mit ungeklärter Identität", mithin eines Anordnungsanspruchs, nicht entgegen. Denn insoweit wird man dem Antragsteller zunächst noch für eine gewisse Zeit zugestehen müssen, den Ausgang des Verfahrens auf Ausstellung eines Reisepasses abzuwarten. Sollte dieses erfolglos verlaufen oder nicht in angemessener Zeit zu einem Ergebnis führen, ist aber davon auszugehen, dass dem Antragsteller nunmehr bekannt ist, welche Möglichkeiten der Beantragung eines Passersatzpapiers (Heimreisedokuments) bestehen und dass er verpflichtet ist, dann auch noch ein entsprechendes Dokument zu beantragen. Bis dahin erweist es sich aber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig, dem Antragsteller eine Duldung mit dem Zusatz "Duldung für Personen mit ungeklärter Identität" zu erteilen. [...]