Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Leistungseinschränkung bei Anerkennung in anderem EU-Staat:
Es ist hinreichend wahrscheinlich, dass die Absenkung auf das physische Existenzminimums nach § 1a Abs. 4 AsylbLG verfassungswidrig ist.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - asyl.net: M19839)
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Es liegt ein Anordnungsgrund vor. Der Antragsteller hat die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile hinreichend glaubhaft gemacht. Er begehrt höhere Leistungen zur Deckung seines monatlichen Existenzbedarfs über den rein physischen Bedarf hinaus. Der Bedarf für die monatliche Existenzsicherung fällt immer aktuell an. Eine spätere Entscheidung kann den Nachteil einer laufenden Bedarfsunterdeckung nicht mehr beseitigen.
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht. Es besteht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass in der Sache ein gegebener materieller Leistungsanspruch besteht. Zwar liegt der Tatbestand der Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 4 AsylbLG in der Fassung vom 15.8.2019 vor. Die Rechtsfolge regelt eindeutig eine Absenkung des Anspruchs auf das physische Existenzminimum. Danach erhalten diese Personen nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege. Nur soweit im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, können noch andere Leistungen im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG gewährt werden. Besondere Umstände des Einzelfalls sind vorliegend nicht vorgetragen worden.
Dennoch besteht die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller in der Hauptsache höhere Leistungen erhält, da zweifelhaft ist, ob die Absenkung auf das physische Existenzminimum verfassungsgemäß ist. Bezüglich der Feststellung, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Leistungsanspruchs vorliegt, kommt es jedoch nicht nur auf das erkennende Gericht, sondern den gesamten Instanzenzug an. Da derzeit keine abschließenden höchstrichterlichen Entscheidungen vorliegen, ist es unter Berücksichtigung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 (Az: 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11) hinreichend wahrscheinlich, dass die Rechtsfolge des neuen § 1a Abs. 4 AsylbLG verfassungswidrig ist. Dies ergibt sich daraus, dass dem Antragsteller nur noch das physische Existenzminimum gewährt wird. Auch wenn die Verfassung nicht die Gewährung von bedarfsunabhängigen voraussetzungslosen Sozialleistungen gebietet (vgl. Bundesverfassungsgericht vom 7. Juli 2010 - 1 BvR 2556/09) ist den hier lebenden Personen unabhängig vom Aufenthaltsrecht neben dem physischen Existenzminimum immer auch ein soziokulturelles Existenzminimum zu gewähren. Es besteht zurzeit eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Kammer, das Landessozialgericht (LSG) oder das Bundessozialgericht (BSG) das Verfahren aussetzt und dem Bundesverfassungsgericht vorlegt. Sollte das Bundesverfassungsgericht die abgesenkten Leistungen für evident unzureichend halten, würde es selbst einen höheren Wert vorgeben oder die Rechtsfolge der Vorschrift verwerfen, so dass dies auch Auswirkungen auf das Hauptsacheverfahren hätte. Daneben besteht die Möglichkeit, dass die Kammer, das LSG oder BSG die Ermessensleistungen dahingehend verfassungskonform auslegen, dass dem betroffenen Leistungsempfänger Leistungen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG zumindest als Sachleistung gewährt werden müssen.
Aus derzeitiger Sicht begegnet § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Ob diesen Bedenken für den Fall des Antragstellers auch in der Hauptsache mit einer verfassungskonformen Auslegung in Form der Berücksichtigung des genannten ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals begegnet werden kann, ist dort zu klären und kann einstweilen offenbleiben. Für die Zwecke des einstweiligen Rechtsschutzes - innerhalb dessen etwa eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG schon wegen der dabei nicht erwartbaren raschen Klärung nicht möglich ist - erscheint die vorläufige Bewilligung zumindest im Wege einer Folgenabwägung unausweichlich.
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG bestehen deshalb, weil diese das Grundrecht des Betroffenen auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums - in offensichtlicher Weise - beeinträchtigt.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvR 10/10 und 2/11) besteht ein Anspruch auf (staatliche) Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG und als Menschenrecht, welches dem Grunde nach unverfügbar ist (Urteil vom 18.07.2012 Rn. 62; zur Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit von Menschenrechten siehe auch Art. 1 Abs. 2 GG). Das Grundrecht gilt für Deutsche wie für sich in Deutschland aufhaltende Ausländer gleichermaßen. Die Garantie des Existenzminimums bezieht sich einheitlich sowohl auf die physische Existenz (Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit) als auch auf die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben (Rn. 64; sog. soziokulturelles Existenzminimum). Zur Wahrung dieses Grundrechts ist ein gesetzlicher Leistungsanspruch einzuräumen (Rn. 65); dabei besitzt der Gesetzgeber sowohl bei der Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse als auch bei der wertenden Einschätzung notwendiger Bedarfe einen Gestaltungsspielraum (Rn. 67, 74), hat aber die Leistungen am jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen im Hinblick auf die konkreten Bedarfe auszurichten (Rn. 62). Maßgebend sind die Verhältnisse in Deutschland, nicht diejenigen im Herkunftsland (Rn. 67). Migrationspolitische Erwägungen können eine geringere Bemessung des Existenzminimums für Ausländer nicht rechtfertigen, da die Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativeren ist (Rn. 95).
Werden aber nach § 1a Abs. 4 Satz 2 (i.V.m. Abs. 1 Satz 2) AsylbLG im Regelfall nur noch Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt (und nur bei besonderen Umständen im Einzelfall im Ermessenswege auch andere Leistungen im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG; vgl. § 1 Abs. 1 Satz 3 AsylbLG), so entfallen die wesentlichen Leistungen zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens (notwendiger persönlicher Bedarf im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 2 AsylbLG) und damit die Möglichkeit zur Deckung von Bedarfen des soziokulturellen Anteils des Existenzminimums. Nur zusammen mit den Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts (notwendiger Bedarf im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG) gewährleisten Letztere jedoch erst das menschenwürdige Existenzminimum, wie es der Gesetzgeber in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3a AsylbLG gerade selbst wertend eingeschätzt hat (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. März 2020 - L 20 AY 20/20 B ER -, Rn. 29 - 32). Die Frage der Verfassungsmäßigkeit wird somit im Rahmen der Hauptsache zu behandeln sein. [...]