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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 17.08.2021 - 1 C 38.20 - asyl.net: M30234
https://www.asyl.net/rsdb/m30234
Leitsatz:

Keine Verlängerung der Überstellungsfrist bei einmaligem nächtlichen Nichtantreffen an der Unterkunft:

"Bleibt ein Überstellungsversuch wegen einmaligen Nichtantreffens des Betroffenen an dem ihm zugewiesenen Aufenthaltsort und ohne Anhaltspunkte für eine längere Ortsabwesenheit erfolglos, begründet dies regelmäßig kein Flüchtigsein im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO."

(Amtlicher Leitsatz; siehe auch BVerwG, Urteil vom 17.08.2021 - 1 C 26.20 - asyl.net: M30159 und BVerwG, Urteil vom 17.08.2021 - 1 C 1.21 - bverwg.de)

Schlagwörter: Dublinverfahren, flüchtig, Überstellungsfrist, Fristverlängerung, Untertauchen, Flüchtigsein, Unterkunft, Dublin III-Verordnung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a, VO 604/2013/EU Art. 29 Abs. 1, VO 118/2014/EU Art. 7 Abs. 1 Bst. a,
Auszüge:

[...]

4 Am 24. April 2018 erfolgte ein Überstellungsversuch, der abgebrochen wurde, weil der Kläger nicht in seinem Zimmer in der Unterkunft angetroffen wurde. Das Bundesamt teilte daraufhin der Ausländerbehörde mit, dass sich die Überstellungsfrist nicht geändert habe und weiterhin am 17. Mai 2018 ende. [...]

6 Der Kläger erschien am 17. Mai 2018 nicht an dem in der Selbstgestellungsaufforderung bezeichneten Ort, sondern um 10:18 Uhr bei der Ausländerbehörde. Am gleichen Tage teilte das Bundesamt den dänischen Behörden mit, dass die Überstellungsfrist nunmehr gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO am 17. Mai 2019 ende. [...]

14 1. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG nicht vorliegen. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-Verordnung für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Dies ist hier nach Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist nicht (mehr) der Fall. Damit ist Deutschland für das Asylverfahren des Klägers zuständig geworden. [...]

16 1.2 Die Zuständigkeit ist wegen Ablaufs der Überstellungsfrist aber nachträglich auf Deutschland übergegangen. [...]

18 b) Die Beklagte hat die Überstellungsfrist nicht wirksam auf 18 Monate verlängert, weil der Kläger nicht im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO "flüchtig" war (im Folgenden auch Flüchtigsein). Der vom Oberverwaltungsgericht für die Beurteilung eines Flüchtigseins in diesem Sinne zugrunde gelegte Maßstab steht im Einklang mit dem insoweit maßgeblichen Unionsrecht (aa). Weder war der Kläger infolge des erfolglosen Überstellungsversuchs am 24. April 2018 (bb) noch wegen der Nichtbefolgung der Selbstgestellungsaufforderung vom 4. Mai 2018 (cc) flüchtig. [...]

"! Allein eine Verletzung von Mitwirkungspflichten rechtfertigt jedenfalls bei einer zwangsweisen Überstellung im Dublin-Verfahren grundsätzlich nicht die Annahme eines Flüchtigseins im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO, solange der zuständigen Behörde der Aufenthalt des Antragstellers bekannt ist und sie die objektive Möglichkeit einer Überstellung - gegebenenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs - hat. Im Gegensatz zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger nach der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 S. 98) - Rückführungsrichtlinie - kennt das Dublin-Überstellungssystem das Institut der freiwilligen Ausreise nicht. Vielmehr erfolgt eine Dublin-Überstellung stets im Rahmen eines behördlich überwachten Verfahrens. [:::]

22 Entgegen der Auffassung der Beklagten genügt für ein kausales Sichentziehen nicht jedes sich irgendwie nachteilig auf die Durchführbarkeit einer angesetzten Überstellung auswirkende Verhalten des Betroffenen bzw. jedwede vorübergehende Verunmöglichung einer Überstellung. Insbesondere entzieht sich ein Ausländer jedenfalls bei einer zwangsweisen Überstellung regelmäßig nicht allein durch ein passives - wenn auch möglicherweise pflichtwidriges - Verhalten (objektiv) dem staatlichen Zugriff. Ist der Vollzugsbehörde der Aufenthalt des Betroffenen bekannt, kann sie eine zwangsweise Überstellung durchführen. Die durch die Abschiebungsanordnung begründete gesetzliche Ausreisepflicht (§ 50 AufenthG i.V.m. § 67 Abs. 1 Nr. 5 und § 34a Abs. 2 Satz 4 AsylG) beinhaltet keine Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung an der eigenen Überstellung. Der Ausreisepflichtige kann selbst entscheiden, ob er an einer ihm angebotenen kontrollierten Überstellung mitwirkt oder nicht. Verweigert er seine Mitwirkung, bedarf es einer begleiteten Überstellung, die er passiv dulden muss. Allein der Umstand, dass sich wegen der fehlenden Mitwirkung bzw. Kooperation des Betroffenen der für eine zwangsweise Überstellung erforderliche Aufwand für die Vollzugsbehörde erhöht und sein Verhalten möglicherweise zu einer Verzögerung führt, weil die Vollzugsbehörde keine Vorsorge für eine begleitete Überstellung getroffen hat, stellt objektiv kein Sichentziehen dar. Der Aufenthalt des Betroffenen ist der Behörde bekannt, und eine Überstellung könnte unter Anwendung unmittelbaren Zwangs jederzeit durchgeführt werden. Damit fehlt es (objektiv) an einem Sichentziehen. Dass der Betroffene (subjektiv) regelmäßig in der Absicht handeln dürfte, eine Überstellung zu vereiteln, genügt nicht. Eine Verlängerungsmöglichkeit allein wegen fehlender Mitwirkung des Betroffenen widerspräche nicht nur dem mit den Dublin-Bestimmungen und speziell mit Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO verfolgten Beschleunigungszweck (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo - Rn. 57 f.), sondern angesichts der erheblichen Folgen, die eine Verlängerung der Überstellungsfrist für den Betroffenen zeitigt, auch dem Ausnahmecharakter des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO (Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet vom 25. Juli 2018 - C-163/17 - Rn. 59). Folglich reicht bei einem den zuständigen Behörden bekannten Aufenthalt des Antragstellers grundsätzlich weder dessen Flugunwilligkeit, ein Aufenthalt im offenen Kirchenasyl (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 42.20 - NVwZ 2021, 875 Rn. 26 m.w.N.), ein einmaliges Nichtantreffen in der Wohnung oder Unterkunft noch das Nichtbefolgen einer Selbstgestellungsaufforderung für die Annahme, er sei im unionsrechtlichen Sinne flüchtig. Letztere dient lediglich der Erleichterung einer - im nationalen Recht regelmäßig vorgeschriebenen - Überstellung mit Verwaltungszwang, in dem sie der Vollzugsbehörde eine zwangsweise Abholung des Ausländers in seiner Unterkunft oder Wohnung erspart. Kommt der Ausländer einer Aufforderung zur Selbstgestellung nicht nach, entzieht er sich damit (objektiv) nicht dem staatlichen Zugriff. [...]

25 bb) Der wegen Abwesenheit des Klägers von der Unterkunft erfolglose Überstellungsversuch am 24. April 2018 ist zwar bei der Prüfung des Flüchtigseins zu berücksichtigen ((1)), rechtfertigt aber in der Sache nicht die Annahme, er sei im unionsrechtlichen Sinne flüchtig ((2)). [...]

29 (2) Bleibt ein Überstellungsversuch wegen einmaligen Nichtantreffens des Betroffenen an dem ihm zugewiesenen Aufenthaltsort und ohne Anhaltspunkte für eine längere Ortsabwesenheit erfolglos, begründet dies regelmäßig - und so auch hier - kein Flüchtigsein im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO.

30 Flüchtigsein ist mehr als eine vorübergehende kurze Unerreichbarkeit. Ein Asylantragsteller, dessen Asylantrag in Deutschland wegen Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates unzulässig ist, ist nicht verpflichtet, sich ununterbrochen zum Zwecke einer Überstellung in seiner Wohnung oder Unterkunft bereitzuhalten. Nach § 50 Abs. 4 AufenthG hat ein ausreisepflichtiger Ausländer, wenn er seine Wohnung wechseln oder den Bezirk der Ausländerbehörde für mehr als drei Tage verlassen will, dies der Ausländerbehörde vorher anzuzeigen. Solange ein Ausreisepflichtiger in seiner Wohnung oder Unterkunft tatsächlich wohnt, dort also seinen Lebensmittelpunkt hat, und nur gelegentlich für kurze Zeit abwesend ist, muss er dies der Ausländerbehörde nicht anzeigen. Bei einer kurzen und vorübergehenden Abwesenheit ist der Staat weder rechtlich noch tatsächlich an der Durchführung einer (zwangsweisen) Überstellung gehindert. Dies gilt auch bei gelegentlicher nächtlicher Abwesenheit. Gewisse zeitliche Verzögerungen wegen vorübergehender Nichterreichbarkeit des Ausländers sind von der Vollzugsbehörde bei der Organisation einer zwangsweisen Überstellung einzuplanen und begründen keine Nichtdurchführbarkeit. Dies gilt jedenfalls, solange keine Anhaltspunkte für ein gezieltes Entziehen vorliegen, etwa wenn der Betroffene in Kenntnis einer konkret bevorstehenden Überstellung oder generell zu den üblichen Abholzeiten in der ihm zugewiesenen Wohnung oder Unterkunft im Sinne eines gezielten Ab- und Wiederauftauchens nicht anwesend oder auffindbar ist. [...]