Verpflichtung zum Wohnen in einer Gemeinschaftsunterkunft aus gesundheitlichen Gründen aufzuheben:
1. Die Verpflichtung, in einer bestimmten Unterkunft zu wohnen, beruht auf einer behördlichen Entscheidung gemäß § 60 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AsylG und folgt nicht aus dem Gesetz.
2. Die Aufhebung einer entsprechenden Auflage lässt die Verpflichtung unberührt, die Betroffenen in einer anderen Einrichtung unterzubringen.
3. § 9 Abs. 4 S. 2 des Landesaufnahmegesetzes des Landes Brandenburg räumt einen Anspruch auf Unterbringung außerhalb einer Gemeinschaftsunterkunft ein, wenn die dortigen Lebensumstände zu gesundheitlichen - hier: psychischen - Schäden geführt haben und eine weitere Verschlechterung des Gesundheitszustands droht.
4. Bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 9 Abs. 4 S. 2 LAufnG reduziert sich das Ermessen auf Null, die Verpflichtung zum Wohnen in einer bestimmten Gemeinschaftsunterkunft aufzuheben.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Der Beklagte wird unter Aufhebung des ablehnenden Bescheides vom 14. Dezember 2020 und des hierzu ergangenen Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 2021 verpflichtet, die Auflage aufzuheben, die den Aufenthaltsgestattungen beigefügt ist, die der Beklagte den Klägern erteilt hat, und die lautet: "Die Inhaberin/der Inhaber ist verpflichtet, in der nachfolgend genannten Einrichtung zu wohnen: [...]
Die gegenüber den Klägern ausgesprochene Verpflichtung, in einer bestimmten Unterkunft zu wohnen, greift vielmehr nicht kraft Gesetzes, sondern beruht auf einer konkreten behördlichen Entscheidung, die ihre Grundlage in § 60 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AsylG findet (vgl. zum unterschiedlichen Regelungsgehalt der Wohnsitzauflage einerseits und der Auflage nach § 60 Abs. 2 AufenthG andererseits auch: Beschluss der 4. Kammer vom 15. Juni 2020 - VG 4 L 238/20 -, Seite 3 des Beschlussabdrucks). Nach§ 60 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AsylG kann ein Ausländer, der nicht oder nicht mehr verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, und dessen Lebensunterhalt nicht gesichert ist, u.a. verpflichtet werden, in einer bestimmten Wohnung oder Unterkunft zu wohnen. [...]
c. Im Ergebnis der gebotenen Auslegung nach § 88 VwGO unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Klageschrift begehren die Kläger, die ihnen jeweils erteilte Auflage mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, weil sie nicht länger in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnen wollen. Sie können dieses Begehren statthafter Weise mit einer Klage verfolgen, deren Ziel es ist, den Beklagten zu verpflichten, die Verpflichtung der Kläger zum Wohnen in einer Gemeinschaftsunterkunft aufzuheben (zur Statthaftigkeit einer Verpflichtungsklage mit dem Ziel der Aufhebung einer Wohnsitzauflage: OVG für das Land Brandenburg, Beschluss vom 30. April 2003 - 4 B 412/02 -, Seite 4 des Beschlussabdrucks und OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. April 2016 - OVG 12 N 22.16 -, Seite 2 ff. des Beschlussabdrucks).
d. Der Einzelrichter hat - wie bereits zuvor die Kammer - keinen Zweifel, dass Auflagen nach § 60 Abs. 2 AsylG als belastende Nebenbestimmungen eines begünstigenden Verwaltungsakts (nämlich der Aufenthaltsgestattung) selbstständig aufgehoben oder geändert werden können. Aufenthaltsgestattungen können nämlich grundsätzlich auch ohne Auflagen nach § 60 Abs. 2 AsylG ergehen.
e. Die antragsgemäße Aufhebung dieser Auflage würde - entgegen dem Vortrag des Beklagten - auch nicht zur Obdachlosigkeit der Kläger führen. Denn sie lässt die Verpflichtung des Beklagten aus § 9 Abs. 1 S. 1 LAufnG unberührt, die ihm im Rahmen des Verteilungsverfahrens zugeteilten Kläger in einer (anderen) Einrichtung der vorläufigen Unterbringung unterzubringen. Nur scheidet in diesem Fall eine Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft aus, so dass die Kläger in anderen Einrichtungen (etwa in einem Wohnungsverbund oder in einer Übergangswohnung) untergebracht werden müssten. Es steht dem Beklagten frei, zu erwägen, ob er in zukünftige Bescheinigungen über die Aufenthaltsgestattung eine entsprechend geänderte Unterkunftsauflage aufnimmt. Verpflichtet ist er hierzu nach der Ermessensvorschrift des § 60 Abs. 2 AsylG nicht. [...]
Abzustellen war insoweit auf die Sachlage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung und damit auch auf den Befundbericht der PIA vom ... 2021, den die Kläger mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom ... 2021 zur Gerichtsakte gereicht haben. Darin stellt die behandelnde Oberärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik ausdrücklich fest. dass die Lebensumstände der Klägerin zu 1. Ende 2020 zu einer depressiven Reaktion der Tochter geführt hätten, wodurch auch bei der Klägerin zu 1. eine "bis heute anhaltend zunehmende Eskalation der Erkrankung" eingesetzt habe. [...]
Somit sei im konkreten Fall zu beobachten, dass die Lebensumstände, insbesondere die Bedingungen der Wohnsituation mit Lärm und fehlenden Rückzugsmöglichkeiten bereits zu gesundheitlichen Schäden geführt hätten. Bei anhaltender Unterbringung unter den aktuellen Bedingungen werde aller Wahrscheinlichkeit nach die depressive Symptomatik weiter zunehmen, die PTBS weiter chronifizieren und die Suizidgefahr weiter steigen. Dies werde auf absehbare Zeit auch in der aktuell zu leistenden Behandlung nicht zu kompensieren sein. Die aktuellen Bedingungen der Gemeinschaftsunterkunft schadeten der Patientin und ihren Kindern. Eine reizärmere Wohnsituation, beispielsweise durch Unterbringung in einer eigenen Wohnung, sei unerlässlich, um eine (Teil-)Remission zu erreichen.
Ausgehend von diesen Ausführungen der behandelnden Fachärztin liegen im Fall der Klägerin zu 1. die tatbestandlichen Voraussetzungen vor, unter denen § 9 Abs. 4 S. 2 LAufnG schutzbedürftigen Personen einen Anspruch auf Unterbringung außerhalb einer Gemeinschaftsunterkunft einräumt. Ist dies aber der Fall, dann reduziert sich auch das - dem Beklagten im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Aufnahme einer Unterkunftsauflage in die Aufenthaltsgestattung der Kläger durch § 60 Abs. 2 Nr. 1 AsylG eröffnete - Ermessen auf null, so dass im Ergebnis nur die Aufhebung der Verpflichtung zum Wohnen in einer Gemeinschaftsunterkunft ermessensgerecht ist und der Beklagte - dem Begehren der Kläger folgend - zu einer entsprechenden Entscheidung zu verpflichten war. [...]