VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 07.12.2021 - 7 K 2885/20 (Asylmagazin 4/2022, S. 136 ff.) - asyl.net: M30345
https://www.asyl.net/rsdb/m30345
Leitsatz:

Anspruch auf GFK-Reiseausweis für in Griechenland anerkannte Familie:

1. Das EATRR (European Agreement on the Transfer of Responsibility for Refugees) ist nicht unmittelbar auf Personen anwendbar, die in Griechenland eine Flüchtlingsanerkennung erhalten haben, da Griechenland das Abkommen nicht ratifiziert hat.

2. Personen mit einer Flüchtlingsanerkennung (in Griechenland) können sich jedoch hinsichtlich der Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge gegenüber der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar auf Art. 28 GFK berufen. Voraussetzung ist ein erlaubter Aufenthalt der betroffenen Person, der u.a. mit der Feststellung eines Abschiebungsverbots begründet werden kann.

3. Im Rahmen des Art. 28 GFK ist es unerheblich, ob es den betroffenen Personen möglich und zumutbar ist, den Reiseausweis in dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkennenden Erststaat zu beantragen.

(Leitsätze der Redaktion; sich anschließend an VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 03.06.2020 - 11 A 45/19 (Asylmagazin 8/2020, S. 277 ff.) - asyl.net: M28519)

Schlagwörter: Übergang der Verantwortung, Flüchtlingsanerkennung, Aufenthaltstitel, internationaler Schutz in EU-Staat, Abschiebungsverbot, Aufenthaltserlaubnis, deklaratorische Wirkung, Genfer Flüchtlingskonvention, Griechenland, Flüchtlingseigenschaft, Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, Reiseausweis,
Normen: GFK Art. 28 Abs. 1 S. 1, GFK Anhang § 11, EATTR Art. 2 Abs. 1 S. 1 Alt. 1, EATTR Art. 5 Abs. 1 Bst. a, EATTR Art. 9 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 3, AufenthG § 25 Abs. 2, AufenthG § 25 Abs. 3, AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Verpflichtungsklage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 19. Oktober 2020 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Die Kläger haben einen Anspruch auf Ausstellung von Reiseausweisen für Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

Der Anspruch ergibt sich aus Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK i.V.m. § 11 Anhang zur GFK. Danach stellen die vertragsschließenden Staaten den Flüchtlingen, die sich rechtmäßig in ihrem Gebiet aufhalten, Reiseausweise aus, die ihnen Reisen außerhalb dieses Gebietes gestatten, es sei denn, dass zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung entgegenstehen; die Bestimmungen des Anhanges zu diesem Abkommen finden auf diese Ausweise Anwendung. Wechselt ein Flüchtling seinen Wohnort oder lässt er sich rechtmäßig im Gebiet eines anderen vertragsschließenden Staates nieder, so geht nach § 11 des Anhanges zur GFK die Verantwortung für die Ausstellung eines neuen Ausweises gemäß Art. 28 GFK auf die zuständige Behörde desjenigen Gebietes über, bei welcher der Flüchtling seinen Antrag zu stellen berechtigt ist.

Die Kläger können sich zunächst unmittelbar auf die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention berufen, der die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG durch Bundesgesetz zugestimmt hat. Die Transformation eines völkerrechtlichen Vertrages durch ein Zustimmungsgesetz führt zur unmittelbaren Anwendbarkeit einer Vertragsnorm, wenn sie nach Wortlaut, Zweck und Inhalt geeignet und hinreichend bestimmt ist, wie eine innerstaatliche Vorschrift rechtliche Wirkung zu entfalten, dafür also keiner weiteren normativen Ausfüllung bedarf. Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich der Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention einschließlich der Bestimmungen über den Reiseausweis für Flüchtlinge vor (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1991 - 1 C 42.88 -, juris Rn. 13, 14 m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14. Juli .1992 - 13 S 2026/91 -, juris Rn. 22; VG Schleswig-Holstein vom 3. Juni 2020 - 11 A 45/19 -, juris Rn. 13 f.).

Die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK i.V.m. § 11 Anhang zur GFK liegen vor.

Die Kläger sind Flüchtlinge im Sinne der Vorschriften. Das VG Schleswig-Holstein (a.a.O, Rn. 20 ff.) führt insoweit zu einer vergleichbaren Konstellation, in der einem Ausländer.in Bulgarien die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden war, aus:

"Die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK bestimmt sich nach dem in Art. 1 GFK umschriebenen Flüchtlingsbegriff (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.01.1992-1 C 21.87 -, juris Rn. 16). Nach Art. 1 A Nr. 1 GFK ist Flüchtling, wer in Anwendung der Verfassung der Internationalen Flüchtlingsorganisation als Flüchtling gilt. Danach wiederum führt bereits die formelle Anerkennung als Flüchtling zur Erfüllung dieser Eigenschaft. Denn eine Person wird nicht aufgrund der Anerkennung ein Flüchtling, sondern die Anerkennung erfolgt, weil die Person ein Flüchtling ist. Jedenfalls ist diese Voraussetzung gegeben, dem Kläger wurde der Flüchtlingsstatus ("refugee status") in Bulgarien zuerkannt.

Diese Anerkennung als Flüchtling entfaltet entgegen der Ansicht des Beklagten auch Rechtswirkung in der Bundesrepublik Deutschland. Einen in allen Vertragsstaaten wirksamen internationalen Flüchtlingsstatus hat die Genfer Flüchtlingskonvention zwar nicht geschaffen, sodass die Souveränität der Vertragsstaaten, selbst über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Einzelfall zu befinden, nicht in Frage gestellt wird, da jeder Vertragsstaat in eigener Verantwortung nach den Vorschriften der Konvention über die Flüchtlingseigenschaft zu entscheiden hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.06.1991 - 1 C 42.88 -; juris Rn. 21). Da jedoch die Erteilung des Flüchtlingsstatus rein deklaratorisch ist und sich die Vertragsstaaten in der Genfer Flüchtlingskonvention auf einheitliche Voraussetzungen der Anerkennung geeinigt haben, kann aufgrund der Anerkennung in Bulgarien kein Zweifel an der Flüchtlingseigenschaft bestehen.

Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Bundesamt als zuständige Behörde der Bundesrepublik Deutschland sachlich nicht mehr über den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entscheidet, da ein solcher Antrag in Deutschland bereits unzulässig ist. Die Anerkennung des Klägers als Flüchtling in Bulgarien steht einer materiellen Prüfung durch das Bundesamt entgegen. Die Annahme des Flüchtlingsstatus aufgrund der bulgarischen Entscheidung greift nicht in die Zuständigkeit des Bundesamtes oder die Souveränität der Bundesrepublik ein, da insoweit ohnehin keine Überprüfung der Voraussetzungen zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfolgen kann." [...]

Die Kläger halten sich außerdem rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland auf. Dabei kann zur Auslegung des rechtmäßigen Aufenthalts und zum damit einhergehen Übergang der Verantwortung für die Ausstellung des Reiseausweises voraussichtlich nicht auf die Regelungen des Flüchtlings-Verantwortungsübereinkommens zurückgegriffen werden. Denn dieses allein zur Beseitigung von Auslegungsschwierigkeiten der GFK hinsichtlich der Ausstellung von Reiseausweisen für Flüchtlinge und zur Vereinheitlichung der Anwendung der GFK getroffene Übereinkommen (vgl. die Denkschrift sowie den erläuternden Bericht zum Übereinkommen, abgedruckt in BT-Drs. 12/6852, ins. S. 14 und 17 f.), dürfte vorliegend nicht anwendbar sein. Zwar haben sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch Griechenland das Übereinkommen unterzeichnet. Im Unterschied zu Deutschland hat Griechenland das Übereinkommen jedoch noch nicht ratifiziert, so dass es in Griechenland nicht in Kraft ist (vgl. Art. 9 Abs. 1 Flüchtlings-Verantwortungsübereinkommen). [...]

Daher dürfte Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK i.V.m. § 11 Anhang zur GFK hier unabhängig vom Flüchtlings-Verantwortungsübereinkommen auszulegen sein (vgl. VG Schleswig-Holstein, a.a.O., Rn. 25).

Ob sich die Auslegung dabei - wie vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat und vom Bundesamt in ihren Anwendungshinweisen zum Übergang der Verantwortung der Flüchtlinge (Nr. 51.7.2 AVV-AufenthG) vom 10. Dezember 2020, S. 5, angenommen - zur einheitlichen Rechtsanwendung am Flüchtlings-Verantwortungsübereinkommen orientieren sollte, kann vorliegend offen bleiben. Denn sowohl bei Heranziehung der Maßstäbe des Flüchtlings-Verantwortungsübereinkommens als auch bei einer davon unabhängigen Auslegung ist von einem rechtmäßigen Aufenthalt bzw. Verantwortungsübergang auszugehen. [...]

Nach diesen Maßstäben ist ein rechtmäßiger Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gegeben. Den Klägern wurde jeweils eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt, da zuvor ein Abschiebungsverbot nach Griechenland festgestellt wurde - anders ist der Bescheid des Bundesamtes nicht zu verstehen. Diese Aufenthaltserlaubnis führt zur Rechtmäßigkeit des Aufenthalts der Kläger im Bundesgebiet. [...]

Im Rahmen des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK i.V.m. § 11 Anhang zur GFK kommt es im Übrigen nicht darauf an, ob und unter welchen Bedingungen der Ausländer einen Reiseausweis noch von dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkennenden Erststaat erhalten kann. Daher ist nicht entscheidungserheblich, ob die Kläger hier Reiseausweis über die griechische Botschaft oder einen Kurzaufenthalt in Griechenland erlangen können. Relevant ist bei Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK allein die - nach obigen Ausführungen gegebene - Rechtmäßigkeit des Aufenthalts. Die Irrelevanz der Möglichkeit, vom Erststaat einen Reiseausweis zu erhalten, ergibt sich außerdem im Umkehrschluss zu Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK. Danach können die vertragschließenden Staaten einen Reiseausweis im Sinne des Satz 1 jedem anderen Flüchtling ausstellen, der sich in ihrem Gebiet befindet; sie werden ihre Aufmerksamkeit besonders jenen Flüchtlingen zuwenden, die sich in ihrem Gebiet befinden und nicht in der Lage sind, einen Reiseausweis von dem Staat zu erhalten, in dem sie ihren rechtmäßigen Aufenthalt haben. Die (Un-)Möglichkeit der Erlangung eines Reiseausweise vom Erststaat soll folglich nur bei den sich nicht im Sinne des Satz 1 rechtmäßig aufhaltenden Flüchtlingen in den Blick genommen werden. [...]