VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 24.03.2022 - 15 A 3838/17 - asyl.net: M30612
https://www.asyl.net/rsdb/m30612
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für getrennt lebende Frau mit Kind hinsichtlich Albanien und Montenegro:

Als Angehörige der diskriminierten Minderheit der Rom*nja droht eine psychisch erkrankte Frau mit minderjährigem Kind in Albanien und Montenegro in eine völlig aussichtslose Lage zu geraten, wenn sie weder eine Aussicht auf Arbeit, noch familiäre Strukturen oder sonstige soziale Netzwerke hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: alleinerziehend, Montenegro, Roma, Albanien, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, Existenzgrundlage, Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

Auch wenn im gerichtlichen Verfahren ohne nachvollziehbaren Grund aktuelle und aussagekräftige ärztliche Atteste nicht vorgelegt worden sind und daher für das Gericht nicht sicher erkennbar ist, ob und in welchem Umfang die Klägerin zum heutigen Zeitpunkt unter gesundheitlichen Einschränkungen leidet und einer entsprechenden, insbesondere psychischen Behandlung bedarf, spricht mit Blick auf die zumindest in der Vergangenheit teilweise in ausreichender Weise ärztlich bescheinigte Krankengeschichte einiges für die Annahme, dass sich die Klägerin auch aktuell jedenfalls in einer solchen psychischen Belastungssituation befindet, dass sie, selbst wenn die in der Vergangenheit geltend gemachte psychische Erkrankung in Montenegro oder Albanien behandelbar wäre, [außerstande wäre,] sich dort niederzulassen, ein neues Leben aufzubauen und ihren Lebensunterhalt zu sichern.

Gemäß dem zugrunde gelegten Lagebericht findet die Grundversorgung in Montenegro oft durch die Großfamilie statt, über die die Klägerin dort nicht verfügt. Sie selbst stammt, wie auch ihre Familie, ursprünglich aus Albanien und ist nach Montenegro allein aufgrund der Eheschließung mit ihrem Ehemann gegangen, von dem sie nach vorausgegangenen gewalttätigen Auseinandersetzungen seit November 2020 getrennt lebt und von dem sie sich scheiden lassen will. Daher ist auch nicht damit zu rechnen, dass ihr Ehemann mit ihr - und den gemeinsamen Kindern - zusammen nach Montenegro zurückkehren würde, um dort, wie vor ihrer Ausreise, für die gesamte Familie den Lebensunterhalt sicherzustellen. Zwar erscheint die wirtschaftliche Situation, insbesondere im sozialen Bereich, in Albanien insgesamt etwas besser als in Montenegro, allerdings kommt auch dort, insbesondere im ländlichen Bereich, der Großfamilie nach wie vor die Rolle zu, Familienmitglieder in Notlagen aufzufangen. Über solches Netzwerk verfügt die alleinstehende Klägerin auch in Albanien nicht, ihre dort früher lebenden engen Familienangehörigen, Mutter und Geschwister, leben mittlerweile in Deutschland, ob die zum Zeitpunkt der Anhörung im Jahr 2015 noch in Albanien lebende Großmutter dort heute immer noch lebt, ist nicht bekannt.

Dass die Klägerin in der Lage wäre, den notwendigen Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu erwirtschaften, ist nicht anzunehmen. Sie gehört der Minderheit der Roma an, verfügt über keinerlei Berufserfahrung und ist Analphabetin.

Laut Lagebericht Albanien (dort Seite 10 f.) sind Volkszugehörige der Roma häufig - v. a. auch im Vergleich zu benachteiligten Nicht-Roma - marginalisiert. [...]

Nach alledem ist es beachtlich wahrscheinlich (zum Prognosemaßstab bei § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK siehe Nds. OVG, Urteil vom 28. Juli 2014 - 9 LB 2/13 -; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 – beide juris), dass die Klägerin wegen ihrer besonderen individuellen Lage - alleinstehende, einer diskriminierten Minderheit angehörige junge Frau mit psychischen Erkrankungen, wohl ohne Aussicht auf Arbeit und ohne familiäre Strukturen und sonstige Netzwerke - auf Grund ihrer besonderen Verletzlichkeit bei einer Rückkehr nach Montenegro oder Albanien einer Ausnahmesituation im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Die humanitäre Lage dort lässt für sie ein menschenwürdiges Dasein nicht zu. Aufgrund ihrer individuellen Umstände ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie im Falle ihrer Rückkehr in eine völlig aussichtslose Lage geraten würde. [...]