LG München II

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Zitieren als:
LG München II, Beschluss vom 12.04.2022 - 2 Qs 3/22 - asyl.net: M30618
https://www.asyl.net/rsdb/m30618
Leitsatz:

Pflichtverteidigung in Strafverfahren wegen Aufenthalts ohne Pass:

1. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich die beschuldigte Person nicht selbst verteidigen kann.

2. Für die Schwierigkeit der Rechtslage spricht, dass es um eine Strafvorschrift des AufenthG und damit eine Vorschrift des Nebenstrafrechts geht, nämlich § 95 Abs. 1 AufenthG. Ferner spricht dafür, dass bei der Prüfung der Strafbarkeit des unerlaubten Aufenthalts ohne Pass der Frage der Zumutbarkeit der Passbeschaffung zentrale Bedeutung zukommt. Dabei handelt es sich um eine schwierige Rechtsfrage. Für die Schwierigkeit der Sache spricht auch, dass eine Verurteilung aufenthaltsrechtliche Folgen nach sich ziehen kann.

3. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Angeklagte die deutsche Sprache nicht beherrscht. Ein*e Dolmetscher*in vermag lediglich die Sprachbarriere, nicht aber die aus der komplexen Sach- und Rechtslage erwachsenden Verständigungsschwierigkeiten beseitigen.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: OLG München, Beschluss v. 07.10.2020 - 2 Ws 1073/20 - gesetze-bayern.de)

Schlagwörter: Ausländerstrafrecht, Passbeschaffung, Zumutbarkeit, Pflichtverteidigung, notwendige Verteidigung,
Normen: StPO § 140 Abs. 2, AufenthG § 95 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Schließlich erging am 05.08.2021 gegen den Angeklagten ein Strafbefehl des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass (Az.. ...), in welchem er zu einer Geldstrafe von 200 Tagessätzen zu je 10,00 Euro verurteilt wurde. [...]

Gegen diesen Strafbefehl legte der Angeklagte durch Schriftsatz seines Wahlverteidigers Briesenick vom 21.12.2021 Einspruch ein und beantragte zugleich die Beiordnung des Verteidigers Briesenick als Pflichtverteidiger. Das Amtsgericht Fürstenfeldbruck hat den Antrag auf Beiordnung von Rechtsanwalt Briesenick durch Beschluss vom 03.03.2022 abgelehnt. Mit Schreiben vom 11.03.2022 legte der Angeklagte durch Verteidigerschriftsatz sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck vom 03.03.2022 ein. [...]

II.
Die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung ist gemäß § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO statthaft. [...]

Das Rechtsmittel ist auch begründet. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung auch vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn nicht ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage liegen hier vor, § 140 Abs. 2 StPO. Die Rechtslage ist schwierig, wenn es bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen ankommt, wenn die Subsumtion voraussichtlich aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten wird, oder wenn es auf die Auslegung von Begriffen aus dem Nebenstrafrecht ankommt. Um den Schwierigkeitsgrad zu beurteilen, ist eine Gesamtwürdigung von Sach- und Rechtslage vorzunehmen [...].

Im Rahmen einer Gesamtwürdigung ist dabei zu berücksichtigen, dass es vorliegend um eine Strafvorschrift aus dem AufenthG - einer Vorschrift des Nebenstrafrechts - geht. Dabei kommt insbesondere dem Begriff der Zumutbarkeit der Erfüllung der Pflicht zur Passbeschaffung zentraler Bedeutung zu (OLG München, Beschluss v. 07.10.2020 - 2 Ws 1073/20). Zudem spricht auch für die Schwierigkeit der Sache, dass eine Verurteilung des Angeklagten ausländerrechtliche Folgen nach sich ziehen könnte.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen. dass der Angeklagte der deutschen Sprache nicht mächtig ist. Die notwendige Zuziehung eines Dolmetschers vermag zwar die Sprachbarriere, nicht aber die aus der komplexen Sach- und Rechtslage erwachsenden Verständigungsschwierigkeiten zu beseitigen.

In einer Gesamtschau aller vorgenannter Umstände erscheint die Rechtslage im vorliegenden Fall als schwierig. Dem Angeklagten ist daher ein Pflichtverteidiger beizuordnen. [...]