OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 15.02.2022 - 4 L 85/21 - asyl.net: M30623
https://www.asyl.net/rsdb/m30623
Leitsatz:

Kein Familienschutz für Eltern eines außerhalb des Verfolgerstaates geborenen Kindes:

1. Für eine Anwendbarkeit des Familienschutzes auf Eltern eines schutzberechtigten Kindes (§ 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AsylG) muss das anerkannte Kind bereits im Verfolgerstaat geboren sein. Es reicht nicht aus, dass das Kind in Deutschland in eine Familie hineingeboren wird, die bereits im Verfolgerstaat bestanden hat.

2. Eine in Somalia 2006 nach religiösem Ritus geschlossene Ehe ist aufgrund der damaligen politischen Situation auch ohne staatliche Registrierung als wirksame Ehe anzusehen.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 25.07.2022 - 13 A 11241/21.OVG - asyl.net: M31006)

Schlagwörter: Familienschutz, minderjährig, in Deutschland geborenes Kind, Eheschließung, Wirksamkeit der Eheschließung, religiöse Eheschließung, Somalia, Familienasyl, Elternasyl,
Normen: AsylG § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, AsylG § 26 Abs. 5, RL 2011/95/EU Art. 2 Bst. j, AsylG § 26 Abs. 3, RL 2011/95/EU Art. 23
Auszüge:

[...]

10 Zur Begründung der fristgerecht erhobenen Berufung tragen die Kläger vor, der Gesetzeswortlaut in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nummer 2 AsylG enthalte keine Vorgabe, dass die Eltern von ihrem stammberechtigten minderjährigen Kind keinen Schutzstatus ableiten könnten, wenn dieses erst nach der Ausreise aus dem Verfolgerstaat geboren worden sei. [...]

26 1. Die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage hat sich nach dem allein in Betracht kommenden Wiederaufnahmegrund des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG nicht nachträglich zugunsten der Betroffenen geändert, indem der Tochter S. der Kläger zu 1. und 2. nach rechtskräftigem Abschluss des Erstverfahrens die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist. Denn diese Änderung ist nicht geeignet, eine für die Kläger günstigere Entscheidung über ihr Asylgesuch herbeizuführen. [...]

27 Gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG werden die Eltern eines minderjährigen ledigen Asylberechtigten oder ein anderer Erwachsener im Sinne des Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95/EU auf Antrag als Asylberechtigte anerkannt, wenn u.a. die Familie im Sinne des Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird (Nr. 2). Für zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung minderjährige ledige Geschwister des minderjährigen Asylberechtigten gilt Satz 1 Nummer 1 bis 4 gemäß § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG entsprechend. Auf Familienangehörige im Sinne der Absätze 1 bis 3 von international Schutzberechtigten sind die Absätze 1 bis 4 entsprechend anzuwenden und an die Stelle der Asylberechtigung tritt die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz (§ 26 Abs. 5 Sätze 1 und 2 AsylG).

28 Für eine Anwendbarkeit des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG muss das stammberechtigte Kind (hier die minderjährige, am Klageverfahren nicht beteiligte Tochter S. der Kläger zu 1. und 2.) gem. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG bereits im Verfolgerstaat (hier also Somalia) geboren sein (VG Regensburg, Urteil vom 9. Juni 2021 - RN 14 K 18.31715 -, juris, Rdnr. 36; VG Augsburg, Urteil vom 23. Juli 2021 - Au 4 K 20.31273 -, juris, Rdnr. 36; VG Aachen, Urteil vom 1. Juni 2021 - 2 K 922/18.A -, juris, Rdnr. 33, 38ff.; VG Hamburg, Urteil vom 20. Februar 2019 - 16 A 146/18 -, juris, Rdnr. 26; Hailbronner, Ausländerrecht, § 26 AsylG Rdnr. 74; GK-AsylG, § 26 Rdnr. 63.1; Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 26 Rdnr. 41; wohl auch VG Frankfurt a.M., Gerichtsbescheid vom 27. Oktober 2021 - 7 K 3593/17.F.A -, juris; vgl. weiter OVG Bremen, Urteil vom 20. Juli 2021 - 2 LB 96/21 -, juris, Rdnr. 53; VGH Bayern, Urteil vom 5. September 2019 - 21 B 16. 31043 -, juris, Rdnr. 27; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25. August 2017 - 11 A 687/17.A - juris, Rdnr. 11; VG Magdeburg, Urteil vom 23. November 2021 - 9 A 221/19 MD -, juris, Rdnr. 26; VG Düsseldorf, Urteil vom 22. November 2021 - 29 K 9053/19.A -, juris, Rdnr. 36). Es reicht nicht aus, dass das in Deutschland geborene stammberechtigte Kind in eine Familie hineingeboren wird, die bereits im Verfolgerstaat bestanden hatte (so aber VG Kassel, Urteil vom 26. Oktober 2020 - 1 K 6953/17.KS.A -, juris, Rdnr. 25; VG Freiburg, Urteil vom 27. August 2020 - A 10 K 8179/17 -, juris, Rdnr. 24 f.; VG Dresden, Urteil vom 26. Juli 2019 - 11 K 3416/17.A -, juris, Rdnr. 23; VG Trier, Urteil vom 25. Juli 2019 - 5 K 10103/17.TR -, juris, Rdnr. 17; VG Wiesbaden, Urteil vom 26. September 2018 - 7 K 3271/17.WI.A -, juris, Rdnr. 26; Broscheit, ZAR 2019, 174ff.; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 26 AsylG, Rdnr. 16; BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, § 26 AsylG, Rdnr. 23b; Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 26 AsylG, Rdnr. 28; noch weitergehend VG Stuttgart, Urteil vom 11. März 2019 - A 17 K 9210/17 -, juris). [...]

31 Allerdings ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG, dass die Geburt des Stammberechtigten außerhalb des Verfolgerstaates nicht ausreichend ist. Danach muss die Familie schon in dem Staat bestanden haben, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird. Für die Bestimmung des Begriffes "Familie" wird in der Regelung ausdrücklich auf Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95/EU - QRL - abgestellt, so dass sich die Auslegung nach dieser Norm richtet (so BVerwG, EuGH-Vorlagebeschluss vom 15. August 2019 - 1 C 32.18 -, juris, Rdnr. 13). [...]

43 2. Nicht zu folgen ist allerdings der Ansicht der Beklagten, dass die fehlende Registrierung der unstreitig im Juni 2006 in Somalia vor einem Sheikh (die Bezeichnung "Scheich" in dem Anhörungsprotokoll des Bundesamtes dürfte auf eine ungenaue Übertragung zurückzuführen sein) erfolgten Eheschließung der Kläger zu 1. und 2. zur Unwirksamkeit dieser Ehe führte.

44 Grundsätzlich kommt es für die Gültigkeit der Ehe auf das Recht des jeweiligen Herkunftsstaates an (VG Kassel, Urteil vom 26. Oktober 2020 - 1 K 6953/17.KS.A -, juris, Rdnr. 27 f., m.w.N.). Im Rahmen des § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG wird als Ehe nur eine bereits im Verfolgerstaat eingegangene und von diesem als Ehe anerkannte und registrierte Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau angesehen. Eine nur nach religiösem Ritus mit Eheschließungswillen eingegangene Verbindung, die der Heimatstaat nicht anerkenne, sei keine Ehe im Sinne des § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG (BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2005 - 1 C 17.03 -, juris, Rdnr. 9). Diese Maßstäbe sind auf die Tatbestände des § 26 AsylG übertragbar, soweit die Gültigkeit einer Ehe in Rede steht.

45 Nach dem nominell unverändert gültigen somalischen Personalstatusgesetz vom 11. Januar 1975 (vgl. Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht mit Staatsangehörigkeitsrecht) soll die Ehe vor einem Richter oder einer vom Ministerium für Justiz und religiöse Angelegenheiten ermächtigten Person geschlossen werden (Art. 5 Nr. 1). Wenn dies nicht möglich ist, kann nach Art. 5 Nr. 2 die Eheschließung vor einer Person erfolgen, die vertiefte Kenntnis des islamischen Rechts hat. Gemäß Art. 5 Nr. 4 ist die Eheschließung innerhalb von zwei Wochen (in ländlichen Gebieten 40 Tage) ab ihrer Vornahme beim nächsten Distriktgericht oder der ausdrücklich ermächtigten Behörde zu registrieren. 46 Offenbleiben kann, ob die in diesem Gesetz vorgeschriebene Registrierung einer nach religiösem Ritus geschlossenen Ehe bei einem Gericht oder einer Behörde lediglich deklaratorisch wirkte und die Ehe deswegen auch ohne Eintragung wirksam war (vgl. Österr. BVwG, Erkenntnis vom 7. November 2017 - W185 2128892-1 -, RIS; vgl. auch VG Oldenburg, Urteil vom 2. Januar 2018 - 3 A 4808/16 -, juris, Rdnr. 21 ff. zur Rechtslage im Irak unter Hinweis auf ein Gutachten des Max-Planck-Instituts).

47 Jedenfalls muss nach der Überzeugung des Senats den gerichtsbekannten Zuständen in Somalia Rechnung getragen werden. Das Land hat seit 1991 keine funktionierende Regierung mehr und somalische Staatsangehörige hatten seitdem keine Möglichkeit, offizielle Dokumente zu erhalten. [...] Es ist danach davon auszugehen, dass es im Jahr 2006 keine nationalen oder regionalen Register gab, welche Informationen über Eheschließungen enthielten, und die Vorschrift zur Registrierung einer nach traditionellem Recht geschlossenen Ehe - schon aufgrund der oft gegebenen Undurchführbarkeit - als obsolet zu betrachten war (so auch Österr. BVwG, Erkenntnis vom 7. November 2017, a.a.O.; vgl. weiter Landinfo – Norwegian Country of Origin Information Centre, "Report Somalia: Marriage and divorce” vom 14. Juni 2018, S. 17). Daher ist eine vor einer geistlich bewanderten Person wie einem Sheikh im Juni 2006 geschlossene Ehe selbst ohne Registrierung als wirksame Ehe anzusehen (vgl. auch VG Trier, Gerichtsbescheid vom 4. März 2016 - 5 K 3320/15.TR -, juris, Rdnr. 24 f.; Österr. BVwG, Erkenntnis vom 7. November 2017, a.a.O.). [...]