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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 25.04.2022 - XIII ZB 38/21 - asyl.net: M30867
https://www.asyl.net/rsdb/m30867
Leitsatz:

Verzicht auf anwaltlichen Beistand in Haftanhörung nur bei umfassender Belehrung wirksam:

1. Sind Verfahrensbevollmächtigte an einem Termin zur persönlichen Anhörung Betroffener verhindert und kommt eine Verlegung aus organisatorischen Gründen nicht in Betracht, darf das Haftgericht die Haft nicht endgültig anordnen, sondern nur vorläufig im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 420 Abs. 1 FamFG.

2. Ein Verzicht auf die Anwesenheit einer/eines Verfahrensbevollmächtigten in der persönlichen Anhörung des Haftgerichts ist unwirksam, wenn Betroffene nicht umfassend und objektiv über ihre Rechte belehrt wurden und ihnen die Folgen eines Verzichts verdeutlicht wurden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Überstellungshaft, Rechtsanwalt, Anhörung, Verzicht, Belehrung, faires Verfahren, Prozessbevollmächtigte,
Normen: FamFG § 427, FamFG § 420 Abs. 1 S. 1, GG Art. 20 Abs. 3
Auszüge:

[...]

II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg. [...]

Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Amtsgericht den Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt hat.

a) Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert jedem Betroffenen das Recht, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Juli 2014 - V ZB 32/14, InfAuslR 2014, 442 Rn. 8; vom 12. November 2019 - XIII ZB 34/19, juris Rn. 7; vom 6. Oktober 2020 - XIII ZB 21/19, juris Rn. 14). Erfährt oder weiß das Gericht, dass der Betroffene einen Rechtsanwalt hat, muss es dafür Sorge tragen, dass dieser von dem Termin in Kenntnis gesetzt und ihm die Teilnahme an der Anhörung ermöglicht wird; gegebenenfalls ist unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach § 427 FamFG ein neuer Termin zu bestimmen [...]. Vereitelt das Gericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme des Bevollmächtigten an der Anhörung, führt dies ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft; es kommt in diesem Fall nicht darauf an, ob die Anordnung der Haft auf diesem Fehler beruht [...].

b) Diesen Maßgaben hat die Verfahrensweise des Amtsgerichts nicht entsprochen.

aa) Es hat den Verfahrensbevollmächtigten zwar über den Termin informiert. Nachdem der Verfahrensbevollmächtigte wegen eines anderen Termins nicht anwesend sein konnte, eine Verlegung auf eine andere Terminstunde aus bei der Bundespolizei vorliegenden organisatorischen Gründen nicht in Betracht kam und am 28. April 2021 die Haftanordnung auslief, hätte das Amtsgericht die Haft aber nicht (erneut) endgültig, sondern nur im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig (§ 427 FamFG) anordnen dürfen, um einen weiteren Anhörungstermin im Beisein des Verfahrensbevollmächtigten zu ermöglichen (BGH, Beschlüsse vom 7. April 2020 - XIII ZB 84/19, juris Rn. 10; vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 123/19, InfAuslR 2021, 242 Rn. 12; vom 22. Februar 2022 - XIII ZB 74/20, juris Rn. 14). [...]

bb) Entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts hat auch der Betroffene selbst auf den Beistand seines Verfahrensbevollmächtigten bei der Anhörung nicht verzichtet. Ein solcher Verzicht ist zwar möglich (BGH, Beschluss vom 20. Juli 2021 - XIII ZB 98/19, juris Rn. 11). Er liegt hier aber nicht vor. Das Amtsgericht hat den Betroffenen ausweislich des Protokolls schon nicht über sein Recht, einen Rechtsanwalt zu der Anhörung hinzuzuziehen, belehrt. Auf den Vortrag des Verfahrensbevollmächtigten in der Beschwerde, der Betroffene sei auch nicht darüber aufgeklärt worden, dass das Amtsgericht den Termin verlegen müsse, wenn er auf der Teilnahme des Rechtsanwalts bestehe, sondern man habe ihm verdeutlicht, dass es "ohnehin nichts bringe", hat das Amtsgericht im Nichtabhilfebeschluss nicht im Einzelnen erläutert, wie es zu der protokollierten Äußerung gekommen ist. Das Amtsgericht hat zwar ausgeführt, dem Betroffenen sei die Verfahrenssituation erklärt worden. Daraus ergibt sich aber nicht, dass dem rechtsunkundigen Betroffenen die Folgen eines Verzichts ausreichend verdeutlicht wurden (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Mai 2020 - XIII ZB 73/19, juris Rn. 9). Denn ein (wirksamer) Verzicht hätte zu einer (rechtmäßigen) Haftanordnung im Hauptsacheverfahren und damit dazu geführt, dass eine erneute Anhörung vor dem Amtsgericht nicht mehr durchzuführen war, dem Betroffenen also der Beistand eines Rechtsanwalts bei dieser Anhörung (endgültig) versagt blieb. Dagegen hätte bei einer nur vorläufigen Entscheidung gemäß § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG erneut eine Anhörung stattfinden müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2022 - XIII ZB 74/20, juris Rn. 16). [...]