VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Urteil vom 31.05.2022 - 7 K 236/21.A - asyl.net: M30911
https://www.asyl.net/rsdb/m30911
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz wegen ernsthaftem Schaden im Libanon:

1. Den Klägern droht eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung durch den Vater der Klägerin, eines Mitglieds der Hisbollah. Infolge des starken Einflusses der Hisbollah in ihren Hochburgen ist staatlicher Schutz nicht verfügbar.

2. Aufgrund der prekären Lage im Libanon besteht auch keine interne Fluchtalternative in Regionen mit einer sunnitischen oder christlichen Bevölkerungsmehrheit.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Libanon, Hisbollah, nichtstaatliche Verfolgung, subsidiärer Schutz, interne Fluchtalternative, Existenzgrundlage, Schutzbereitschaft,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

1. Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1, Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG, da ihnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Libanon ein ernsthafter Schaden droht. [...]

a) Im Rahmen seiner freien richterlichen Beweiswürdigung ist das Gericht nach Auswertung der protokollierten Anhörung der Kläger vor dem Bundesamt und nach informatorischer Befragung der Kläger vor Gericht davon überzeugt, dass den Klägern im Libanon mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 durch den Vater der Klägerin zu 2 droht, der für sein Vorgehen gegen die Kläger auch Ressourcen der Hisbollah nutzen kann.

Die Kläger haben detailreich, widerspruchsfrei und ohne Eifer zur Übertreibung dargelegt, wie sie durch ihre Beziehung und ihre Lebensweise in den Fokus des Vaters der Klägerin zu 2. gerieten, der letztlich gewaltsam versuchte die Verbindung der Kläger zu lösen und seiner Tochter eine Lebensweise nach seinen Wertvorstellungen aufzuzwingen, die streng religiös und durch seine Tätigkeit bei der Hisbollah geprägt ist. Bereits die stattgefundenen Angriffe des Vaters, wie Freiheitsberaubung, gewaltsame Übergriffe und massive Bedrohungen erreichen eine Schwere, die dem Schutzbereich des Art. 3 EMRK zuzuordnen ist. Bei Rückkehr in den Libanon ist davon auszugehen, dass die Kläger Bestrafungen in gleicher oder gesteigerter Intensität zu erleiden hätten. [...]

b) Entgegen der Annahme der Beklagten ist für das Gericht indes nicht ersichtlich, dass Schutz durch staatliche Stellen einen ernsthaften Schaden für die Kläger mit der nötigen Sicherheit ausschließt (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. § 3c Nr. 3 AsylG).

Gemäß § 3c Nr. 3 AsylG in Verbindung mit § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG kann die Gefahr eines ernsthaften Schadens auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder übrige Akteure erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, wirksamen Schutz vor Verfolgung im Sinne des § 3d AsylG zu bieten. Dass nationaler Schutz erwiesenermaßen nicht verfügbar sein darf, bedeutet indes keine echte Beweislastregelung zu Lasten der Kläger. Unter Berücksichtigung von Art. 6 lit. c der Richtlinie 20011/95/EU [...], dem dieser Maßstab entnommen ist, bestimmt § 3c Nr. 3 AsylG lediglich eine Darlegungslast für die Kläger (vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt Ausländerrecht, 12. Aufl, § 3c AsylG Rn. 3 m.w.N.). Die Kläger müssen mithin lediglich schlüssig darlegen und nicht sicher beweisen, dass sie sich um Schutz bemüht haben, diesen aber nicht erlangen konnten (Marx, in: Marx AsylG, 9. Aufl., § 3d Rn. 34). Dieses Darlegungserfordernis wurde durch die Kläger erfüllt. Sie haben übereinstimmend geschildert, wie sie bei der libanesischen Polizei, letztlich erfolglos, um Schutz ersuchten. Die Angaben dazu sind glaubhaft. Sie sind mit Realkennzeichen durchsetzt. So schilderten die Kläger nicht nur die einfache Abweisung durch polizeiliche Stellen, sondern beschrieben auch die Komplikation, dass Polizeibeamte dem Kläger zu 1. zunächst sehr wohl zum Wohnort der Klägerin zu 2. folgten und erst am Folgetag für die Kläger ersichtlich wurde, dass daraus kein effektiver Schutz resultiert, da die Verbindung des Vaters der Klägerin zu 2. zur Hisbollah bekannt geworden war. Im Übrigen entspricht es der Erkenntnislage, dass die Hisbollah, welcher der Vater der Klägerin zu 2. angehört, in ihren Hochburgen (Teile der Bekaa-Ebene, südliche Beiruter Vororte, Teilgebiete des Südens) – wozu … im Distrikt Sidon im Südgouvernement des Libanon zählt - weiterhin eine Art Staat im Staat darstellt und dort neben sozialen und politischen Aufgaben faktisch auch die Funktion einer Sicherheitsbehörde ausübt (Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Libanon vom 17.12.2021, Stand Dezember 2021, S. 7). Vor diesem Hintergrund ist auch nicht ersichtlich, an welche übergeordneten Stellen sich die Kläger noch hätten erfolgversprechend wenden sollen (Bescheid v. 2.2.2021, Seite 6 unten) und wird von der Beklagten auch nicht weiter ausgeführt.

c) Den Klägern steht auch kein interner Schutz gemäß § 4 Abs. 3, § 3e AsylG offen. [...]

Von den Klägern und ihren weiteren Familienangehörigen der Kernfamilie, ihren Kindern, die ein Jahr bzw. vier Monate alt sind, kann bei der derzeitigen prekären Lage im Libanon unter Berücksichtigung ihrer individuellen Situation nicht verlangt werden, sich im christlichen Kerngebiet des Mont Liban oder im sunnitischen Tripoli niederzulassen. Sie würden im Falle einer Niederlassung außerhalb ihrer Heimatregion bzw. außerhalb der Gebiete, in denen die Hisbollah vorherrscht, voraussichtlich verelenden. [...]