VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 18.02.2022 - A 7 K 3174/21 - asyl.net: M30921
https://www.asyl.net/rsdb/m30921
Leitsatz:

Keine Bindungswirkung der Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates für neues Asylverfahren in Deutschland:

"1. Wenn ein in einem anderen Mitgliedstaat anerkannter Flüchtling in diesen Mitgliedstaat nicht abgeschoben werden kann, weil ihm dort eine erniedrigende Behandlung i. S. d. Artikel 4 GRC [GR-Charta] drohen würde, muss § 60 Absatz 1 Satz 2 und 3 AufenthG dahingehend europarechtlich teleologisch reduziert werden, dass er dann keine Geltung beanspruchen kann.

2. In diesem Fall bedarf es eines (neuen) Asylverfahrens, in dem der jeweilige Antragsteller wiederum internationalen Schutz erlangen kann (Anschluss an EuGH Beschluss vom 13.11.2019 - C-540/17 und C-541/17 -, juris Rn. 42 und 43).

3. Die Anerkennung eines Ausländers als Flüchtling in einem anderen Staat wirkt völkerrechtlich nicht wie eine Statusentscheidung durch deutsche Behörden und hat in diesem Sinne keine umfassende Bindungs­wirkung für die Bundesrepublik Deutschland (Anschluss an BVerwG Urteil vom 17.6.2014 - 10 C 7.13 -, juris Rn. 29).

4. § 60 Absatz 1 Satz 2 AufenthG steht einer Abschiebung in die Palästinensischen Autonomiegebiete (Gaza-Streifen) nicht entgegen, weil dieser teleologisch reduziert worden ist, um eine erneute vollständige Prüfung der Asylgründe des Klägers zu ermöglichen."

(Amtliche Leitsätze; siehe auch: VG Minden, Urteil vom 02.03.2022 - 1 K 194/21.A - asyl.net: M30547)

Schlagwörter: internationaler Schutz in EU-Staat, Bindungswirkung, Griechenland, Abschiebungsandrohung, Palästinenser, Gaza-Streifen, Gaza, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, GR-Charta Art. 4, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 3, RL 2011/95/EU, AsylG § 3
Auszüge:

[...]

24 Nach diesen strengen Maßgaben wäre die Entscheidung, den Asylantrag des Klägers als unzulässig abzulehnen, rechtswidrig gewesen, weil ihm im Fall der Überstellung nach Griechenland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Artikel 4 GRC droht. Es ist davon auszugehen, dass er dort im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Absatz 1 AsylG) unabhängig von seinem Willen und persönlicher Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten würde und seine Grundbedürfnisse nicht würde befriedigen können (so auch generell für junge, gesunde erwerbsfähige Männer: Niedersächsisches OVG, Urteil vom 19.4.2021 - 10 LB 244/20 -, Rn. 23; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.1.2021 - 11 A 1564/20.A -, Rn. 30 und VGH BW Urteil vom 27.1.2022 - A 4 S 2443/21 - jeweils juris). [...]

45 Die auch in ihren Hilfsanträgen zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Absatz 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Absatz 5 oder 7 Aufenthaltsgesetz (§ 113 Absatz 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 7.6.2021 ist daher auch insoweit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

46 Der Flüchtlingsstatus des Klägers in Griechenland hindert das von dem Status abweichende Ergebnis des Bundesamts sowie des erkennenden Gerichts nicht. Denn die Anerkennung eines Ausländers als Flüchtling in einem anderen Staat wirkt völkerrechtlich nicht wie eine Statusentscheidung durch deutsche Behörden und hat in diesem Sinne keine umfassende Bindungswirkung für die Bundesrepublik Deutschland. Die Genfer Flüchtlingskonvention vom 28.7.1951 legt einheitliche Kriterien für die Qualifizierung als Flüchtling fest, sieht aber keine völkerrechtliche Bindung eines Vertragsstaats an die Anerkennungsentscheidung eines anderen vor. Eine solche Bindungswirkung ergibt sich auch nicht aus dem Unionsrecht. Dieses ermächtigt zwar nach Artikel 78 Absatz 2 Buchst. a AEUV zu Gesetzgebungsmaßnahmen, die einen in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige vorsehen, die maßgebliche RL 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 sieht eine in der ganzen Union gültige Statusentscheidung jedoch nicht vor (vgl. BVerwG Urteil vom 17.6.2014 - 10 C 7.13 -, juris Rn. 19). Da § 60 Absatz 1 Satz 2 und 3 AufenthG aus europarechtlichen Gründen teleologisch reduziert werden muss, um - wie vom Europäischen Gerichtshof gefordert - eine vollständige Prüfung der Asylgründe des Klägers zu ermöglichen (vgl. EuGH Beschluss vom 13.11.2019 - C-540/17 -, juris Rn. 43 und Hess. VGH Urteil vom 4.11.2016 - 3 A 1292/16.A -, juris Rn. 32), steht § 60 Absatz 1 Satz 1 und 2 AufenthG dieser Prüfung auch nicht entgegen. [...]

52 Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Denn im Hinblick auf den Vortrag des Klägers, in Gaza sei keine Sicherheit gegeben, man leide unter Arbeitsmangel und die Kinder würden mit Raketeneinschlägen im Ohr schlafen ist kein Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 Absatz 1 AsylG gegeben. Soweit der Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung nunmehr vorgetragen hat, dass er von der Hamas verfolgt werde, weil er vor 12 bis 13 Jahren Mitglied der Leibgarde Jassir Arafats gewesen und deswegen vor elf Jahren illegal aus dem Gazastreifen geflohen sei, ist der Vortrag nicht glaubhaft. [...]