VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 09.09.2022 - 11 K 164/22 - asyl.net: M30940
https://www.asyl.net/rsdb/m30940
Leitsatz:

Anspruch auf Reiseausweis für subsidiär schutzberechtigte Person aus Syrien:

1. Die Kontaktaufnahme zu einer syrischen Auslandsvertretung ist unzumutbar, wenn die Möglichkeit besteht, dass sie Familienangehörige in Syrien in Gefahr bringt. Bei einer Person, die sich dem Wehrdienst entzogen hat und exilpolitisch aktiv ist, kann eine Gefährdung von Familienmitgliedern in Syrien nicht ausgeschlossen werden.

2. Ist die Erlangung des Passes nicht zumutbar, besteht hinsichtlich subsidiär Schutzberechtigter entgegen dem Wortlaut des § 5 Abs. 1 AufenthV ein Anspruch auf Erteilung des Reiseausweises und steht diese nicht im Ermessen der Behörde. Das ergibt sich aus Art. 25 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU). 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, subsidiärer Schutz, Reiseausweis für Ausländer, Wehrdienstentziehung, Familienangehörige, Unzumutbarkeit der Passbeschaffung, Passbeschaffung, Pass,
Normen: AufenthV § 5 Abs. 1, RL 2011/95/EU Art. 25 Abs. 2, AsylG § 4 Abs. 1, AufenthG § 3 Abs. 1, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Ausgehend von den regelmäßig zumutbaren Mitwirkungshandlungen gemäß § 5 Abs. 2 AufenthV bemisst sich die der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegende Unzumutbarkeit nach den Umständen des Einzelfalls. Dabei ist es im Hinblick auf den mit der Ausstellung eines Reisedokumentes regelmäßig verbundenen Eingriff in die Personalhoheit eines anderen Staates grundsätzlich erforderlich, dass der Ausländer sich bei den Behörden seines Heimatstaats nachdrücklich um einen Pass oder ein Passersatzpapier bemüht. [...] Eine Unzumutbarkeit, sich zunächst um die Ausstellung eines Nationalpasses seines Heimatstaates zu bemühen, kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht. [...]

Bei Anlegung dieses Maßstabs ist im Falle des Klägers von einem solchen Ausnahmefall auszugehen, bei dem bereits die Kontaktaufnahme mit der syrischen Botschaft zur Erlangung eines Reisepasses unzumutbar im Sinne der genannten Vorschrift ist. Nach den vorliegenden Erkenntnissen ist nicht auszuschließen, dass die Kontaktaufnahme mit den syrischen Behörden einschließlich der Auslandsvertretungen des syrischen Staates die Sicherheit sich in Syrien aufhaltender Familienangehöriger von nach Deutschland geflohen syrischen Staatsangehörigen in Gefahr bringen kann, wenn es sich bei den Geflüchteten um Deserteure oder Wehrdienstentzieher handelt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 13. September 2017 an das VG Köln, Gz. 508-516.80/49728). [...]

Bei einer Kontaktaufnahme mit den syrischen Behörden ist zumindest von der Möglichkeit einer Gefährdung der in Syrien lebenden Schwester des Klägers auszugehen. Die Gefährdung muss, anders als der Beklagte meint, nicht feststehen (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. Juni 2022 - OVG 3 N 36/22 - EA S. 7). Sie ergibt sich im vorliegenden Fall zum einen daraus, dass der Kläger Wehrdienstentzieher ist, da er sich nach Vollendung seines 18. Lebensjahrs nicht beim zuständigen syrischen Rekrutierungsbüro gemeldet hat (VG Köln, Urteil vom 4. Dezember 2019 - 5 K 7317/18 - juris, Rn. 51).

Zum anderen ist der Kläger exilpolitisch aktiv. [...] Er ist nach seinen Angaben zwar nicht Oppositionspolitiker im Sinne einer beruflichen oder exponierten Tätigkeit; der Kläger hat jedoch seine Mitgliedschaft in der Partei Al-Hadatha dargelegt, in der er keine Führungsposition innehat, für die er aber öffentlich wirbt, und, an deren Veranstaltungen er teilnimmt. [...]

In der Gesamtschau der vorliegenden Erkenntnisse und der Situation des Klägers sowie seiner Familie kann danach eine Gefährdung bei einer Kontaktaufnahme mit der syrischen Botschaft nicht ausgeschlossen werden. Liegen damit die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer nach § 5 Abs. 1 AufenthV vor, folgt daraus unmittelbar ein entsprechender Anspruch des Klägers. Denn im Falle eines subsidiär Schutzberechtigten kommt den Ausländerbehörden entgegen dem Wortlaut von § 5 Abs. 1 AufenthV für die Entscheidung über die Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer kein Ermessen zu. Für subsidiär Schutzberechtigte im Sinne des § 4 AsylG gilt ergänzend Art 25 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU [...] - Qualifikationsrichtlinie -. [...]