VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 24.05.2022 - 2 A 26/22 (Asylmagazin 10-11/2022, S. 369 f.) - asyl.net: M30975
https://www.asyl.net/rsdb/m30975
Leitsatz:

Systemische Mängel im kroatischen Asylverfahren wegen gewaltsamer Pushbacks:

"1. Die kroatische Grenzpolizei vereitelt durch zwangsweise Rückschiebungen von Geflüchteten nach Bosnien-Herzegowina und Serbien gezielt das Recht auf Asylantragstellung und verstößt damit gegen das Non-Refoulement-Gebot.

2. Kroatische Polizeibeamte üben bei der Durchführung von Pushbacks regelmäßig körperliche und psychische Gewalt gegen Geflüchtete aus.

3. Der kroatische Grenzüberwachungsmechanismus ist bisher nicht in der Lage, menschenrechtswidrige Zwangsrückführungen über die EU-Außengrenze wirksam zu verhindern.

4. Aufgrund der Beteiligung Kroatiens an Kettenabschiebungen aus anderen EU-Ländern kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch Dublin-Rückkehrer aus Deutschland Opfer von Pushbacks werden.

5. Behördliche Schreiben zu den allgemeinen Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im Zielland einer etwaigen Abschiebung stellen keine individuelle Garantieerklärung für die Betroffenen dar."

(Amtliche Leitsätze; vorgehend: VG Braunschweig, Beschluss vom 25.02.2022 - 2 B 27/22 - asyl.net: M30527)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Kroatien, Pushback, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Refoulement, EMRK, Kettenabschiebung, Polizei, Genfer Flüchtlingskonvention, Dublin III-Verordnung, Zurückschiebung, Zurückweisung, Non-Refoulement, Europäische Menschenrechtskonvention,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, GFK Art. 33 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

30 Die Zuständigkeit Kroatiens ergibt sich grundsätzlich aus Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO. [...]

31 Die Zuständigkeit Kroatiens ist jedoch aus verfahrensbezogenen Gründen auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen.

32 Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Kläger an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Kläger in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) mit sich bringen. [...]

34 Solche systemischen Schwachstellen im kroatischen Asylsystem bestehen darin, dass es in Kroatien seit Langem und in erheblichem Umfang zu gewaltsamen "Push-backs", dem Abdrängen von Asylbewerbern über die kroatische EU-Außengrenze nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina, kommt. Auch Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina von Österreich, Italien oder Slowenien aus sind hinreichend belegt. Folglich ist nicht sichergestellt, dass im Wege des Dublin-Verfahrens von Deutschland an Kroatien rücküberstellte Asylsuchende nicht ebenfalls Opfer gewaltsamer Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien werden könnten und ihr Recht auf Asylantragstellung dadurch vereitelt würde. [...]

38 Zwangsrückführungen ohne ordnungsgemäße Prüfung des Asylantrages stellen dabei keine Einzelfälle oder Exzesse bestimmter Polizeibeamter dar, sondern entsprechen politischen Entscheidungen und spezifischen Anweisungen der übergeordneten Behörden an die Einheiten der kroatischen Grenzpolizei. [...]

41 Auch in jüngster Vergangenheit setzt sich die rechtswidrige Praxis der "Push-backs" in Kroatien fort. [...]

46 Die in Kroatien praktizierten "Push-backs", Abschiebungen, ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen und ein ordnungsgemäßes Asylverfahren zu erhalten, verstoßen gegen das Non-Refoulement-Prinzip. Dieses Prinzip ist verankert in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der bestimmt, keiner der vertragschließenden Staaten werde einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde. [...]

52 Es kann somit entgegen der bisherigen Annahme vieler Verwaltungsgerichte (VG Hannover, Beschluss vom 31.01.2022 – 7 B 6223/21 –, juris Rn. 29; VG Stade, Beschluss vom 05.01.2022 – 3 B 1271/21 –, n. v.; VG Ansbach, Beschluss vom 20.12.2021 – AN 14 S 21.50254 –, juris Rn. 44; VG Chemnitz, Beschluss vom 10.12.2021 – 4 L 519/21. A –, juris Rn. 31; VG München, Beschluss vom 24.02.2021 – M 30 S 21.50066 –, juris Rn. 23) nicht davon ausgegangen werden, dass die dargestellten massiven Menschenrechtsverletzungen Dublin-Rückkehrer nicht betreffen.

53 Denn zu den zahllosen dokumentierten gewaltsamen und entwürdigenden Übergriffen und der Verweigerung des Rechts auf Asylantragstellung kam es nicht nur unmittelbar nach illegalen Grenzübertritten von Serbien oder Bosnien-Herzegowina aus, sondern auch in Fällen, in denen sich die Migranten bereits mehrere Tage im Landesinneren aufhielten, sogar dann, wenn sie bereits weit in andere EU-Länder wie Slowenien, Italien oder Österreich vorgedrungen waren und von dort aus zurückgeschoben wurden. Zwar liegen keine spezifischen Erkenntnismittel zum Verbleib von Dublin-Rückkehrern aus Deutschland vor, doch ist davon auszugehen, dass diese insbesondere angesichts der niedrigen Zahlen von den im Grenzgebiet tätigen Nichtregierungsorganisationen nicht separat erfasst werden. [...]

55 Während durch die vorliegenden Erkenntnismittel hinreichend belegt ist, dass Kroatien in systematischer Art und Weise menschenrechtswidrig gegen Migranten vorgeht, bestehen zugleich keine gesicherten Erkenntnisse darüber, dass Dublin-Rückkehrern aus Deutschland gegenüber anderen Asylbewerbern eine Vorzugsbehandlung zuteilwird. Dementsprechend bietet den Klägern auch die Rückführung nach Kroatien auf dem "regulären Weg" keine Sicherheit, nicht zum Gegenstand von "Push-backs" gemacht und nach Bosnien-Herzegowina rückgeführt zu werden, ohne dass sie vorher angehört würden oder dass ihnen ein wirksamer Rechtsschutz gegen die Entscheidung zur Verfügung stünde. [...]

56 Die ausgeführten Bedenken konnte die Beklagte auch nicht ausräumen durch den Verweis auf das Schreiben der kroatischen Behörden vom 11.04.2022. Dieses erfüllt schon nicht die Kriterien einer individuellen Garantieerklärung zugunsten der Kläger, da es ausschließlich allgemeine Ausführungen enthält und insbesondere weder darauf eingeht, dass es sich bei den Klägern um Dublin-Rückkehrer handelt, noch darauf, dass die Klägerin zu 1) angibt, bereits einmal Opfer von Polizeigewalt in Kroatien geworden zu sein, und dass der Kläger zu 2) höchst vulnerabel ist und eine besonders geschützte Unterbringung und medizinische Versorgung benötigt. Stattdessen bestreiten die kroatischen Behörden vollumfänglich die Durchführung von "Push-backs" und verweisen auf das gesetzlich verankerte Non-Refoulement-Prinzip. Angesichts der zahlreichen und übereinstimmenden Berichte sowohl von Nichtregierungsorganisationen als auch von der Delegation des Europäischen Komitees des Europarats kann jedoch keinesfalls angenommen werden, dass es sich bei den Schilderungen von "Push-backs" über die kroatisch-bosnische Grenze lediglich um fälschliche Schutzbehauptungen von Asylsuchenden handelt. Da die kroatischen Behörden nicht einmal bereit sind, vergangene Versäumnisse bei der Gewährung internationalen Schutzes einzuräumen, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass sie entsprechende Versäumnisse für die Zukunft effektiv verhindern. [...]