VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Urteil vom 18.08.2022 - 4 K 530/19 We - asyl.net: M31034
https://www.asyl.net/rsdb/m31034
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für HDP-Mitglied hinsichtlich der Türkei:

1. Gegen die von Verwaltungsgerichten überwiegend vertretenen Auffassung, dass nur Funktionsträger der HDP Opfer willkürlicher Verfolgung durch den türkischen Staat werden können, spricht schon die Anzahl inhaftierter HDP-Mitglieder.

2. Vorliegend ergibt sich die Verfolgungsgefahr aus dem Umstand, dass der unverfolgt ausgereiste Kläger befürchten muss, Opfer von Repressalien zu werden, weil der türkische Staat in sippenhaftähnlicher Weise versuchen könnte, Druck auf seine beiden für die HDP tätigen bzw. nach Deutschland geflohenen Brüder auszuüben. Hinzu kommt sein exilpolitisches Engagement. Selbst wenn belastendes Material insofern sehr dünn ist, müssen Betroffene unter selektiver und willkürlicher Anwendung der Gesetze in der Türkei mit empfindlichen Haftstrafen rechnen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, HDP, HADEP, Exilpolitik, Kurden, Sippenhaft, politische Verfolgung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 28 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig und begründet. [...]

Der Kläger hat einen Anspruch auf Gewährung internationalen Schutzes, weil die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG vorliegen. [...]

Nach diesen Maßstäben hat der Kläger allerdings unverfolgt die Türkei verlassen. Die Razzien, die die Polizei im Haus der Familie des Klägers durchführte, galten offenkundig dem Bruder des Klägers. [...]

Des Weiteren geht die Mehrzahl der Verwaltungsgerichte in Deutschland davon aus, dass ein niederschwelliges Engagement in Gliederungen der HDP nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geeignet ist, eine Verfolgung durch türkische Behörden nach sich zu ziehen (vgl. u.a. VG Augsburg, Urteil vom 25.05.2021 - 6 K 19.30581 -, juris; VG Aachen, Urteil vom 11.02.2022 - 10 K 1852/19.A -, juris; VG Dresden, Urteil vom 02.08.2021 - 3 K 1255/20.A -, juris). Jedoch muss dies zumindest insofern relativiert werden, dass auch HDP-Mitglieder oder sogar deren Familienangehörige unter bestimmten Umständen ins Visier der Sicherheitsbehörden geraten können und in asylrelevanter Weise verfolgt werden.

Allein schon die Anzahl der betroffenen HDP-Mitglieder spricht gegen die Annahme, dass nur Funktionsträger Opfer willkürlicher Verfolgung werden können, vgl. hierzu Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Türkei, Version 4 vom 06.12.2021:

"Laut Angaben der HDP waren seit 2015 mehr als 10.000 HDP-Mitglieder inhaftiert. Einige Tausend HDP-Mitglieder wurden freigelassen, nachdem sie - manchmal jahrelang – hinter Gittern saßen, dennoch befinden sich immer noch mehr als 4.000 HDP-Mitglieder, darunter Abgeordnete und Ko-Bürgermeister, im Gefängnis (HDP 18.5.2021; vgl. EC 19.10.2021, S.11). Außerdem leben Tausende HDP-Mitglieder im Ausland, darunter Abgeordnete und ehemalige Ko-Bürgermeister, die nach HDP-Angaben vor politisch motivierten Haftbefehlen der AKP-nahen Justiz fliehen mussten (HDP 18.5.2021)".

Es besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger in der Türkei Opfer von Repressalien wird, um in sippenhaftähnlicher Weise Druck auf den Bruder ... auszuüben, der als … für die HDP arbeitete und mit diversen Verfahren überzogen wurde, sowie auf den nach Deutschland geflohenen Bruder ... [....]

Hinzu kommt, dass der Kläger nach eigenen Aussagen nach der Ausreise an prokurdischen Veranstaltungen in Paris und Frankfurt teilgenommen und sich in den sozialen Netzwerken politisch betätigt hat. Zumindest von der Teilnahme an Protesten konnte sich das Gericht durch Einsichtnahme in entsprechendes Bildmaterial überzeugen.

Der Kläger muss, selbst wenn das belastende Material sehr dünn ist, unter selektiver und willkürlicher Anwendung der Gesetze mit empfindlichen Haftstrafen rechnen (VG Karlsruhe, Urteil vom 02.04.2019 - A 10 K 8159/17 - juris). [...]

Die beiden aufgezeigten Gefahren summieren sich in der Person des Klägers. Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung ist die Kammer daher in diesem konkreten Einzelfall davon überzeugt, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in der Türkei im Falle einer Rückkehr Verfolgungsgefahren in Gestalt einer willkürlichen Verhaftung oder Folter ausgesetzt sein wird, zumal davon auszugehen ist, dass Personen, die in Deutschland ein Asylverfahren betrieben haben, bei einer Überstellung in die Türkei besonders intensiv überprüft werden. [...]

Die erst in der Bundesrepublik aufgenommenen exilpolitischen Aktivitäten stellen sich als Fortführung einer entsprechenden, schon während des Aufenthalts im Heimatstaat vorhandenen und erkennbar betätigten festen politischen Überzeugung nach § 28 Abs. 1a AsylG dar.

Eine interne Schutzmöglichkeit nach § 3e AsylG besteht nicht. Die o. g. Maßnahmen werden landesweit praktiziert. Die Justiz sowie die Sicherheitskräfte haben Zugriff auf das gesamte Staatsgebiet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 03.06.2021, S. 16). [...]