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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 19.10.2022 - 1 BvL 3/21 (Asylmagazin 1-2/2023, S. 37 ff.) - asyl.net: M31094
https://www.asyl.net/rsdb/m31094
Leitsatz:

Leistungskürzungen für alleinstehende Asylsuchende in Sammelunterkünften verfassungswidrig:

1. Die 2019 eingeführte Regelung des § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG, wonach alleinstehende Personen in Sammelunterkünften, die sogenannte Analogleistungen beziehen, reduzierte Leistungen der Regelbedarfsstufe 2 erhalten, ist mit dem Grundsatz zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar.

2. Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung wird angeordnet, dass für alleinstehende Personen in Sammelunterkünften der Regelbedarf in Höhe der jeweils aktuellen Regelbedarfsstufe 1 zugrunde gelegt wird. Für Leistungsbescheide, die bei Bekanntgabe dieser Entscheidung (24.11.2022) noch nicht bestandskräftig waren, gilt dies ab dem 1. September 2019. Dies gilt nicht für bereits bestandskräftige Bescheide, die vorhergehende Leistungszeiträume betreffen.

3. Der sich aus dem Grundsatz zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 GG ergebende Leistungsanspruch kann nicht pauschal und ohne tragfähige Belege nur auf der Grundlage der Vermutung abgesenkt werden, dass Bedarfe bereits anderweitig gedeckt sind und Leistungen daher nicht zur Existenzsicherung benötigt werden.

4. Die Absenkung von Leistungen durch die Gesetzgebung ist zwar nicht ausgeschlossen, da von Betroffenen erwartet werden kann, ihre Bedürftigkeit unmittelbar zu vermeiden oder zu vermindern. Eine pauschale Absenkung existenzsichernder Leistungen lässt sich darauf aber nur stützen, wenn tatsächlich die Möglichkeit besteht, Bedarfe in diesem Umfang nachweisbar zu decken.

(Leitsätze der Redaktion)

Anmerkung:

Siehe auch:

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Gemeinschaftsunterkunft, Bedarfsstufe, Bedarfsgemeinschaft, Sozialrecht, alleinstehend, Gemeinschaftsunterkunft, Sozialstaatsprinzip, Existenzminimum, Gleichheitsgrundsatz, allgemeiner Gleichheitssatz, Bedarf, Regelleistung, Grundleistungen, Analogleistungen, Aufnahmeeinrichtung, Regelbedarf, Gemeinschaftsunterbringung, gemeinsames Wirtschaften, soziokulturelles Existenzminimum, Bargeldbedarf, Schicksalsgemeinschaft, Sammelunterkunft, Verfassungsmäßigkeit, Einspareffekt, Paarhaushalt, verfassungskonforme Auslegung, Auslegung, Leistungskürzung, Vorlage, Bundesverfassungsgericht, Zwangsverpartnerung,
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 1, AsylbLG § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 a.F., AsylbLG § 3a Abs. 1 Nr. 2 Bst. b, AsylbLG § 3a Abs. 2 Nr. 2 Bst. b, GG Art. 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

51 Die Regelung des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG in der Fassung von Art. 1 Nr. 3 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 13. August 2019 (BGBl I S. 1290) genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Die Vorgabe der Anwendung der niedrigeren Regelbedarfsstufe 2 auf alleinstehende Erwachsene in Sammelunterkünften verletzt das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. [...]

53 1. Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann (BVerfGE 125, 175 <222 f.> m.w.N. – Höhe der Regelleistung I; ebenso BVerfGE 132, 134 <159 Rn. 63> – Höhe der Asylbewerberleistungen; siehe auch BVerfGE 137, 34 <72 Rn. 74> – Höhe der Regelleistung II; BVerfGE 142, 353 <371 f. Rn. 39> – Bedarfsgemeinschaft; BVerfGE 152, 68 <114 Rn. 120> – Sanktionen im Sozialrecht). Verfassungsrechtlich ist entscheidend, dass Sozialleistungen fortlaufend realitätsgerecht bemessen werden und damit tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge getragen wird (vgl. BVerfGE 125, 175 <225>; 132, 134 <162 Rn. 69, 163 Rn. 72>; 137, 34 <73 Rn. 77, 74 Rn. 79>; 142, 353 <370 ff. Rn. 36, 38, 43>). [...]

55 2. Der Gesetzgeber verfügt bei den Regelungen zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums über einen Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Art und Höhe der Leistungen. Ihm obliegt es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. [...]

56 Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Bedarfslagen berücksichtigen will, darf er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung nach dem Aufenthaltsstatus ausländischer Staatsangehöriger ist nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade von Menschen, die diesen Aufenthaltsstatus haben, belegt werden kann (vgl. BVerfGE 132, 134 <164 Rn. 73> m.w.N.). Migrationspolitische Erwägungen, Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren (vgl. BVerfGE 132, 134 <173 Rn. 95>; vgl. auch BVerfGE 152, 68 <114 Rn. 120>).

57 3. Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenzminimums entspricht eine zurückhaltende Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 125, 175 <225>; 152, 68 <115 Rn. 122>; stRspr). [...]

60 4. Dabei verwehrt das Grundgesetz dem Gesetzgeber nicht, die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz an den Nachranggrundsatz zu binden, also nur dann zur Verfügung zu stellen, wenn Menschen ihre Existenz nicht vorrangig selbst sichern können (vgl. BVerfGE 125, 175 <222>; 142, 353 <371 Rn. 39>; 152, 68 <116 Rn. 123>; siehe auch BVerfGE 120, 125 <154 ff.>). Der Gesetzgeber darf den Gedanken der Subsidiarität verfolgen, wonach vorhandene Möglichkeiten der Eigenversorgung Vorrang vor staatlicher Fürsorge haben (vgl. BVerfGE 152, 68 <116 Rn. 125>). Auch der soziale Rechtsstaat ist darauf angewiesen, dass Mittel der Allgemeinheit, die zur Hilfe für deren bedürftige Mitglieder bestimmt sind, nur in Fällen in Anspruch genommen werden, in denen wirkliche Bedürftigkeit vorliegt (BVerfGE 142, 353 <371 Rn. 39>). Eine daran anknüpfende Schonung der begrenzten finanziellen Ressourcen des Staates sichert diesem künftige Gestaltungsmacht gerade auch zur Verwirklichung des sozialen Staatsziels (BVerfGE 152, 68 <116 Rn. 124>). [...]

67 Die Regelung des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG ist mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, soweit alleinstehenden erwachsenen Leistungsberechtigten in Sammelunterkünften niedrigere Leistungen zuerkannt werden.

68 1. Dass die nach § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG in der Höhe bestimmten Geldleistungen bereits evident unzureichend sind, kann hier nicht festgestellt werden. [...]

69 2. Die in § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG vorgenommene Bemessung von Leistungen für den regelmäßigen Bedarf zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 ist derzeit nicht tragfähig begründbar (im Ergebnis ebenso zu § 3a Frerichs, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, Stand 23.08.2022, § 3a AsylbLG Rn. 43; Hohm, in: Hohm, GK-AsylbLG, Stand Juli 2021, § 3a Rn. 32 ff., 45; Siefert, in: Siefert, AsylbLG, 2. Aufl. 2020, § 3a Rn. 17; zweifelnd auch Herbst, in: Mergler/Zink, SGB XII, Stand Februar 2020, § 2 AsylbLG Rn. 42g mit dem Verweis auf dies., Stand Februar 2021, § 3a AsylbLG Rn. 10; Oppermann/Filges, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, Stand 26.11.2021, § 2 AsylbLG Rn. 170). Auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse ist nicht davon auszugehen, dass die Leistungshöhe den existenznotwendigen Bedarf sichert. Zunächst ist nicht erkennbar, dass die in den Sammelunterkünften wohnenden alleinstehenden Bedürftigen regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern erzielen, die einer Absenkung der Leistungshöhe um 10 % gegenüber der Regelbedarfsstufe 1 entsprechen (a). Zwar kann der Gesetzgeber bei der Bemessung des existenznotwendigen Bedarfs grundsätzlich auch eine von den Bedürftigen nicht genutzte, ihnen aber an sich tatsächlich eröffnete und zumutbare Möglichkeit von Einsparungen berücksichtigen. Doch fehlt es an hinreichend tragfähigen Anhaltspunkten für die Annahme, dass in den Sammelunterkünften tatsächlich typischerweise die Voraussetzungen dafür vorliegen, durch die Erfüllung der Obliegenheit gemeinsamen Wirtschaftens Einsparungen in dem Umfang erzielen zu können, dass dies die pauschale Absenkung des Regelbedarfs um 10 % rechtfertigen könnte (b). Die Regelung des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG kann auch nicht auf andere als die im Gesetzgebungsverfahren angeführten Gründe gestützt werden (c).

70 a) Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Alleinstehende in den Sammelunterkünften, weil sie typischerweise gemeinsam mit anderen dort Wohnenden wirtschaften und dadurch für den Regelbedarf relevante Einsparungen erzielen, tatsächlich im Regelfall einen geringeren Bedarf haben als Alleinstehende in einer eigenen Wohnung. Tragfähige Erkenntnisse dazu liegen nicht vor (aa). Der Gesetzgeber kann auch nicht die pauschale Annahme zugrunde legen, dass in Sammelunterkünften so wie in Paarhaushalten gemeinsam gewirtschaftet wird und deshalb ein gegenüber der Regelbedarfsstufe 1 geringerer Bedarf besteht (bb).

71aa) Es gibt bislang keine Erkenntnisse, wonach die alleinstehenden Bedürftigen regelmäßig mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern der Sammelunterkünfte gemeinsam wirtschaften. Der Gesetzgeber selbst hat zu den tatsächlichen Bedarfen in den Sammelunterkünften keine Erhebungen angestellt oder entsprechende Erkenntnisse in dieses Verfahren eingebracht. Die Erwägung, beim notwendigen Bedarf an Nahrung könne eingespart werden, etwa indem Lebensmittel oder zumindest der Küchengrundbedarf in größeren Mengen gemeinsam eingekauft und in den Gemeinschaftsküchen gemeinsam genutzt werde (vgl. BTDrucks 19/10052, S. 24), wird nicht auf Tatsachen gestützt. Vielmehr wird hier allein eine Erwartung formuliert, ohne zu belegen, dass sie tatsächlich erfüllt wird. [...]

72 Zudem sprechen die in diesem Verfahren eingeholten wie auch die im Gesetzgebungsverfahren (oben Rn. 15) eingebrachten Stellungnahmen eher dagegen, dass in den Sammelunterkünften durch gemeinsames Wirtschaften tatsächlich nennenswerte Einsparungen erzielt würden. [...]

73 bb) Die gegenüber der Regelbedarfsstufe 1 pauschal abgesenkte Leistungshöhe kann auch nicht tragfähig darauf gestützt werden, dass die Annahme von Einsparungen in Paarhaushalten auf Sammelunterkünfte übertragen werden könnte. Der Gesetzgeber formuliert diese Annahme, ohne tatsächliche Grundlagen für die Gleichsetzung zu benennen. Anders als bei in einer Wohnung zusammenlebenden Paaren (vgl. BVerfGE 125, 175 <230 f.>; 137, 34 <83 Rn. 100>; vgl. auch BTDrucks 18/9984, S. 84 f.) kann der Gesetzgeber bei Alleinstehenden in einer Sammelunterkunft auch unter Berücksichtigung der in den vorliegenden Stellungnahmen geschilderten tatsächlichen Situation nicht als Regelfall unterstellen, dass sie mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern tatsächlich gemeinsam „aus einem Topf“ wirtschafteten und insofern mit Paarhaushalten vergleichbar seien (so aber BTDrucks 19/10052, S. 19 f., 23 ff.). Der Gesetzgeber ging schon für Paarhaushalte davon aus, ein Minderbedarf könne nicht für alle denkbaren Fallkonstellationen hinreichend fundiert quantifiziert werden (vgl. BTDrucks 18/9984, S. 84) und unterstellte einen solchen nur aufgrund besonderer persönlicher Nähe. Erwachsenen, die nicht als Paar in einer Wohnung als Wohngemeinschaft zusammenleben, ordnet der Gesetzgeber denn auch den Regelbedarf für Alleinlebende zu. Die persönliche Nähe (vgl. BTDrucks 18/9984, S. 85) fehlt aber auch im Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG. In Sammelunterkünften wohnen die Menschen nicht aufgrund eigenen Entschlusses zusammen; die Gruppen bestimmt vor Ort die Behörde, der Träger der Einrichtung oder die Hausleitung. [...]

74 b) Allerdings hat der Gesetzgeber den Ansatz der Regelbedarfsstufe 2 für die in Sammelunterkünften lebenden alleinstehenden Bedürftigen nicht allein auf die Annahme gestützt, dass dort tatsächlich regelmäßig gemeinsam gewirtschaftet werde. Der niedrigeren Bemessung von Leistungen in § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG durch Zuordnung der Regelbedarfsstufe 2 liegt auch die Annahme zugrunde, den  Leistungsberechtigten sei es möglich und zumutbar, in den Unterkünften eröffnete Möglichkeiten zu gemeinsamem Wirtschaften zu nutzen, so dass die dadurch erzielbaren Einsparungen bei der Bemessung des existenznotwendigen Bedarfs berücksichtigt werden könnten (vgl. BTDrucks 19/10052, S. 24 f.). Dies ist im Ausgangspunkt verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (aa). Diese Obliegenheit gemeinsamen Wirtschaftens ist aber nur dann verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn hinreichend gesichert ist, dass in den Sammelunterkünften auch tatsächlich die Voraussetzungen dafür vorliegen, diese erfüllen und so Einsparungen in entsprechender Höhe erzielen zu können. Dafür haben sich in diesem Verfahren keine Anhaltspunkte ergeben (bb).

75 aa) Bei der Bemessung des existenznotwendigen Bedarfs kann nicht nur ein zumutbarer Einsatz von Einkommen, Vermögen und Zuwendungen Dritter und ein gegenseitiges tatsächliches Einstehen füreinander von sich nahestehenden Personen in einer Bedarfsgemeinschaft berücksichtigt werden (vgl. BVerfGE 142, 353 <371 Rn. 39>; oben Rn. 61). Vielmehr kann dem Nachranggrundsatz staatlicher Leistungen zur Sicherung der eigenen Existenz auch dadurch Rechnung getragen werden, dass von Bedürftigen verlangt wird, ihre Hilfebedürftigkeit selbst zu überwinden oder einen Bedarf für existenzsichernde Leistungen gar nicht erst eintreten zu lassen (vgl. BVerfGE 152, 68 <116 f. Rn. 126>; oben Rn. 62). Ausgehend davon kann der Gesetzgeber den Bezug existenzsichernder Leistungen grundsätzlich an die Erfüllung der Obliegenheit knüpfen, tatsächlich eröffnete, hierfür geeignete, erforderliche und zumutbare Möglichkeiten zu ergreifen, die Bedürftigkeit unmittelbar zu vermeiden oder zu vermindern (vgl. BVerfGE 152, 68 <148 Rn. 209>).

76 bb) Der pauschalen Minderung des Regelbedarfs der in einer Sammelunterkunft lebenden alleinstehenden erwachsenen Bedürftigen um 10 % durch die Vorgabe der Regelbedarfsstufe 2 liegt auch die Annahme einer solchen Obliegenheit zugrunde. Der Gesetzgeber geht davon aus, die alleinstehenden Leistungsberechtigten in den Sammelunterkünften seien gehalten, durch gemeinsames Wirtschaften in dieser Höhe Einsparungen zu erzielen. Dies genügt den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht. Der Gesetzgeber verfolgt mit einer solchen Regelung zwar ein legitimes Ziel ((1)). Die Regelung ist zur Erreichung dieses Ziels auch noch als geeignet ((2)) und erforderlich ((3)) anzusehen. Doch ist die pauschale Leistungskürzung in der Ausgestaltung durch § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG nicht verhältnismäßig im engeren Sinne, weil es an tragfähigen Anhaltspunkten dafür fehlt, dass typischerweise tatsächlich die Voraussetzungen vorliegen, durch gemeinsames Wirtschaften in Sammelunterkünften nennenswerte Einsparungen erzielen zu können ((4)). [...]

80 (b) Grundsätzlich erscheint es zwar denkbar, dass Kosten gesenkt werden, wenn für den Lebensunterhalt benötigte Güter kostengünstiger gemeinsam beschafft oder vorhandene Güter gemeinsam genutzt werden. Dass hier tatsächlich nennenswerte Einsparungen möglich sind, ist jedoch insbesondere nach den Ausführungen der sachkundigen Dritten ungewiss. Es hat sich in diesem Verfahren nicht gezeigt, dass sich durch gemeinsames Wirtschaften in einer Sammelunterkunft die Kosten für Nahrung, Hygiene, Freizeit und Kommunikation, auf die der Gesetzgeber insoweit verweist (vgl. BTDrucks 19/10052, S. 24; oben Rn. 13), nennenswert verringern lassen.

81 Der Möglichkeit der gemeinsamen Deckung des Nahrungsbedarfs können außerdem zwingende, etwa religiöse Speiseeinschränkungen entgegenstehen (zur Bedeutung als verbindlich empfundener religiöser Gebote vgl. BVerfGE 138, 296 <332 f. Rn. 96> – Kopftuch II). Erschwerend treten regelmäßig unterschiedliche Sprachkenntnisse und teilweise auch objektiv unterschiedliche Tagesabläufe hinzu, die die Möglichkeit tatsächlich gemeinsamen Wirtschaftens erheblich einschränken können.

82 Auch sind die in den Sammelunterkünften untergebrachten Personen nicht alle gleichermaßen darauf angewiesen, Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften zu erzielen. [...]

83 Dazu kommt, dass ausweislich der vorliegenden Erkenntnisse nicht einfach davon ausgegangen werden kann, dass in den Sammelunterkünften die Aufbewahrung von Vorräten an Lebensmitteln oder auch Hygieneartikeln in größerem Umfang realistisch möglich ist. [...]

84 Zudem ist nicht ohne Weiteres davon auszugehen, dass Vorräte, Kleingeräte oder gemeinsam zu nutzende Freizeitgegenstände bei unabsehbarer und sehr unterschiedlicher Verweildauer in der Unterkunft gemeinsam angeschafft werden. [...]

86 (4) Die Obliegenheit, den Bedarf für existenzsichernde Leistungen durch gemeinsames Wirtschaften zu vermindern, und die darauf beruhende pauschale Absenkung der Leistungen für alleinstehende Analogleistungsberechtigte in Sammelunterkünften um 10 % durch Vorgabe der Regelbedarfsstufe 2 in § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG ist jedoch nicht verhältnismäßig im engeren Sinne. Der existenznotwendige Bedarf der betroffenen Leistungsberechtigten ist dann derzeit nicht gedeckt. Zwar wäre eine Regelung, die den Regelbedarf existenzsichernder Leistungen pauschal absenkt, weil die Bedürftigkeit in entsprechender Höhe verringert werden kann, nicht von vornherein unangemessen. Doch wird die Ausgestaltung der hier zu überprüfenden Vorgabe nach den vorliegenden Erkenntnissen den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nicht gerecht. [...]

90 Weder im Gesetzgebungsverfahren noch im verfassungsgerichtlichen Verfahren wurde hinreichend tragfähig begründet, dass tatsächlich die Möglichkeit besteht, diese Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften in den Sammelunterkünften zu erzielen. Nach den verfügbaren Erkenntnissen geben mehrere Umstände vielmehr Anlass zu Zweifeln, ob durch gemeinsames Wirtschaften in Sammelunterkünften tatsächlich Einsparungen in diesem Umfang erzielt werden können (oben Rn. 78 ff.). Damit kann auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse nicht davon ausgegangen werden, dass die Betroffenen in der Regel hinreichend verlässliche Möglichkeiten haben, ihre Ausgaben für existenzsichernde Bedarfe durch gemeinsames Wirtschaften mit Mitbewohnern in dem Maß zu verringern, das der Gesetzgeber annimmt. Soweit es an der Möglichkeit fehlt, durch die Erfüllung einer an sich zumutbaren Obliegenheit gemeinsamen Wirtschaftens die eigene Bedürftigkeit in dem nach dem Gesetz erwarteten Umfang zu verringern, und der Gesetzgeber dennoch die Regelbedarfsleistungen pauschal in diesem Umfang absenkt, werden Leistungen vorenthalten, welche die Betroffenen zur Existenzsicherung benötigen. [...]