VG Greifswald

Merkliste
Zitieren als:
VG Greifswald, Urteil vom 17.11.2022 - 3 A 1301/22 HGW - asyl.net: M31160
https://www.asyl.net/rsdb/m31160
Leitsatz:

Keine systemischen Schwachstellen im italienischen Asylsystem, wenn dort noch kein Asylantrag gestellt wurde:

Die Situation von Dublin-Rückkehrenden hängt davon ab, ob sie vor ihrer Ausreise aus Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben oder nicht. Wurde kein Asylantrag gestellt, ist die Unterbringung sichergestellt und es droht ihnen keine Obdachlosigkeit und grundsätzlich keine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GR-Charta/Art. 3 EMRK.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1689/20.A (Asylmagazin 10-11/2021, S. 371 ff.) - asyl.net: M29901)

Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, Unterbringung, Aufnahmeeinrichtung, Obdachlosigkeit, Asylantragstellung, Asylantragstellung im Ausland,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

18 Die Klage ist jedoch unbegründet.

19 Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. August 2022 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. [...]

25 Für den erkennenden Einzelrichter bestehen auf Grundlage der dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass für den Kläger – einer nicht vulnerablen, arbeitsfähigen Person – nach einer Überstellung nach Italien die ernsthafte Gefahr besteht, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC ausgesetzt zu werden.

26 Zur Rückkehrsituation arbeitsfähiger Dublin-Rückkehrer hat das Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen mit Beschluss vom 13. Januar 2022 – 6 V 829/21 – (veröffentlicht bei juris unter dem Aktenzeichen 6 V 828/21), im Einzelnen ausgeführt:

"Die Situation von Dublin-Rückkehrern hängt davon ab, ob sie vor ihrer Ausreise aus Italien dort bereits einen Asylantrag gestellt haben oder nicht." [...]

38 Diese Feststellungen und die zitierten Schlussfolgerungen macht sich der erkennende Einzelrichter im Zuge der gebotenen Gesamtbetrachtung des Einzelfalls nach eigener Würdigung der dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel, wie sie sich aus der dem Klägervertreter übersandten Erkenntnismittelliste ergeben, zu eigen.

39 Auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnismittel ergeben sich zwar Anhaltspunkte dafür, dass Dublin-Rückkehrer unter Umständen keinen Zugang (mehr) zu den italienischen Unterkünften bekommen. Demnach können Dublin-Rückkehrende, die zuvor in einem staatlichen Erstaufnahmezentrum oder einer Notunterkunft untergebracht (oder lediglich zugeteilt) waren und dort nicht erschienen sind oder das Zentrum ohne Benachrichtigung wieder verlassen haben, ihr Recht auf Unterkunft verlieren (SFH v. Januar 2020, S. 44, 46 f.; BFA vom 11. November 2020). Die Wiederaufnahme in das System werde nur aus triftigen persönlichen Gründen und nur sehr restriktiv ermöglicht (SFH v. Januar 2020, S. 45). Während eines erforderlichen Verfahrens auf Wiederaufnahme bestünde kein Zugang zu einer staatlichen Unterkunft (SFH vom Januar 2020, S. 45). Bei Ablehnung gebe es keine alternative staatliche Unterbringungsmöglichkeit (SFH vom Januar 2020, S. 45). Nahezu vierzigtausend Asylsuchende hätten gemäß einer Studie aus den Jahren 2016 und 2017 mindestens ihr Recht auf Unterkunft im Aufnahmesystem verloren (SFH vom Januar 2020, S. 45). Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat aufgrund dieser Umstände angenommen, dass für Dublin-Rückkehrer die ernsthafte Gefahr bestehe, dass sie keinen Zugang zu einer menschenwürdigen Unterkunft erhalten (OVG Münster, Urteil vom 20. Juli 2021 – 11 A 1689/20.A –, juris Rn. 52 ff.; vgl. auch Beschluss vom 25. November 2021 – 11 A 571/20.A –, juris Rn. 22 ff.).

40 Es ist daher derzeit möglicherweise nicht sichergestellt, dass Dublin-Rückkehrer nach ihrer Ankunft in Italien für die Dauer ihres Asylverfahrens, eines etwaigen Folgeantragsverfahrens oder bis zur Abschiebung in ihren Herkunftsstaat (wieder) Zugang zu einer staatlichen Unterkunft und Versorgung erhalten.

41 Diese vorstehend genannten Gefahren drohen dem Kläger vorliegend aber gerade nicht. Er wäre bei einer Rückkehr nach Italien nicht von einem Verlust des Unterkunftsanspruchs bedroht. Der Kläger hat in der Erstbefragung vom 1. Juni 2022 ausweislich der Niederschrift angegeben, während seines 7-tägigen Aufenthaltes in Italien keinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt zu haben. In der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrages vom 8. Juni 2022 hat er noch einmal ausgeführt, in Italien keinen Asylantrag gestellt zu haben. [...]

42 Soweit das Gericht zudem prognostisch zu überprüfen hat, ob dem Dublin-Rückkehrer für den Fall einer Schutzgewährung im nach der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedstaat eine Gefahr i.S.d. oben genannten Maßstäbe des EGMR und EuGH droht, ist dies vorliegend für gesunde, alleinstehende Dublin-Rückkehrer, die erst noch ein Asylerstverfahren mit entsprechender Unterkunftsgewährung zu durchlaufen haben und insoweit frühzeitig ein – zumutbar – hohes Maß an Eigeninitiative für eine zukünftige Sicherung der elementaren Lebensgrundlagen entfalten können, unter Verweis auf die obigen Ausführungen nicht zu erkennen (vgl. OVG Greifswald, Urteil vom 19. Januar 2022 – 4 LB 68/17 –, juris Rn. 18 ff.). [...]