VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 15.12.2022 - 2 V 2290/22 (Asylmagazin 3/2023, S. 73) - asyl.net: M31190
https://www.asyl.net/rsdb/m31190
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet:

1. Im Eilverfahren gegen die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet hat das Gericht das Offensichtlichkeitsurteil des BAMF erschöpfend zu prüfen. Es darf sich nicht auf eine sonst im Eilverfahren übliche summarische Prüfung beschränken.

2. Wird eine Person wegen Schulden im Herkunftsland u.A. durch körperliche Gewalt unter Druck gesetzt, ist nicht von einer offensichtlich rein wirtschaftlichen Motivation des Aufenthalts im Bundesgebiet gemäß § 30 Abs. 2 AsylG auszugehen.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerfG, Beschluss vom 25.02.2019 - 2 BvR 1193/18 - Asylmagazin 4/2019, S. 111 f. - asyl.net: M27063)

Schlagwörter: offensichtlich unbegründet, wirtschaftliche Notlage, Notsituation, vorläufiger Rechtsschutz, Rechtsweggarantie, Algerien,
Normen: AsylG § 30 Abs. 2, AsylG § 36 Abs. 4, GG Art. 16a Abs. 4 S. 1, GG Art. 19 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Es bestehen ernstliche Zweifel an der Abweisung des Asylgesuches als offensichtlich unbegründet.

Bei der Prüfung des Offensichtlichkeitsurteils ist das Gericht - auch im Eilverfahren - wegen des Gebots des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gehalten, die Offensichtlichkeit - will es sie bejahen - erschöpfend zu klären, wenngleich mit Verbindlichkeit allein für das Eilverfahren. Mithin ist es dem Gericht insoweit verwehrt, sich auf eine summarische Prüfung zu beschränken. Denn die vom Bundesverfassungsgericht zur Abweisung einer Asylklage als offensichtlich unbegründet entwickelten Kriterien sind ohne Weiteres auf die im Rahmen des Eilverfahrens vorzunehmende Offensichtlichkeitsprüfung übertragbar (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 25. Februar 2019 - 2 BvR 1193/18 -, juris Rn. 21).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. nur BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 25. Februar 2019 - 2 BvR 1193/18 -, juris Rn. 18, 19 m.w.N.; Stattgebender Kammerbeschluss vom 07. November 2008 - 2 BvR 629/06 - , juris Rn. 10) setzt die Abweisung einer Asylklage als offensichtlich unbegründet - mit der gravierenden Folge des Ausschlusses weiterer gerichtlicher Nachprüfung - voraus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 77 Abs. 1 AsylG) an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Gerichts vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung in Rechtsprechung und Lehre die Abweisung der Klage dem Verwaltungsgericht geradezu aufdrängt. Aus den Entscheidungsgründen muss sich zudem klar ergeben, weshalb das Gericht zu einem Urteil nach § 78 Abs. 1 AsylG kommt.

Übertragen auf das Eilverfahren hat das Verwaltungsgericht aufgrund einer eigenständigen Beurteilung insbesondere zu prüfen, ob das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamts auch weiterhin Bestand haben kann. Das Verwaltungsgericht darf sich dabei nicht mit einer bloßen Prognose zur voraussichtlichen Richtigkeit des Offensichtlichkeitsurteils begnügen, sondern muss die Frage der Offensichtlichkeit - will es sie bejahen - erschöpfend, wenngleich mit Verbindlichkeit allein für das Eilverfahren klären und insoweit über eine lediglich summarische Prüfung hinausgehen. [...]

Gemessen an diesen Grundsätzen bestehen unter Zugrundelegung der gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der vom Bundesamt getroffenen Offensichtlichkeitsentscheidung (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG). [...]

Nach § 30 Abs. 2 AsylG ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn nach den Umständen des Einzelfalles offensichtlich ist, dass sich der Ausländer nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation zu entgehen, im Bundesgebiet aufhält. Diese Voraussetzungen sind - seine Angaben in der Anhörung zugrunde gelegt - nicht erfüllt. Hiernach ist der Antragsteller zwar auch, aber nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland gekommen. Ein weiterer Grund ist seiner Schilderung nach die Bedrohungslage, die laut ihm von Händlern ausgeht, bei denen er Schulden hat und die ihn im Jahr vor seiner Ausreise durch Handlanger u.a. durch Anwendung körperlicher Gewalt unter Druck gesetzt haben. Von einer rein wirtschaftlichen Motivlage für den Aufenthalt im Bundesgebiet kann daher nicht ausgegangen werden, zumal er seine wirtschaftliche Situation im Übrigen als durchschnittlich bezeichnet hat.

Die Offensichtlichkeitsentscheidung des Bundesamtes lässt sich auch sonst nicht auf der Grundlage des § 30 Abs. 1 AsylG oder einer der in § 30 Abs. 3 AsylG enumerativ genannten Tatbestände aufrechterhalten (zum Austausch der Offensichtlichkeitsgründe: VG Bremen, B.v. 31 .07.2020 - 1 V 79/20). [...]