OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 02.06.2023 - 6 Bs 60/23 - asyl.net: M31704
https://www.asyl.net/rsdb/m31704
Leitsatz:

Bagatellgrenze von Straftaten im Rahmen des Chancen-Aufenthaltsrechts:

1. Die Bagatellgrenze der für die Erteilung eines Chancen-Aufenthaltsrechts nach § 104c AufenthG unschädlichen Strafbarkeit liegt bei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen, wobei die Geldstrafen aus einzelnen Verurteilungen zu summieren sind.

2. Wird das in § 104c Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG genannte Strafmaß überschritten, besteht ein zwingender Versagungsgrund für das Chancen-Aufenthaltsrecht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Bleiberecht, Ausschlussgrund, Chancen-Aufenthaltsrecht, Geldstrafe, Straftatbestand, Gesamtstrafe,
Normen: AufenthG § 104c Abs. 1 S. 1 Nr. 2, AufenthG § 25b Abs. 1 S. 2 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

25 Die dagegen erhobenen Einwände greifen nicht durch. Zutreffend geht das Verwaltungsgericht davon aus, dass vorliegend im Rahmen des § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG die Geldstrafen aus den beiden Verurteilungen zu summieren sind. Für eine entsprechende Auslegung der Regelung spricht zunächst deren Wortlaut, wonach nur "Geldstrafen" (Unterstreichung nur hier) von "insgesamt" bis zu 50 bzw. 90 Tagessätzen grundsätzlich außer Betracht bleiben. Diese Auslegung wird gestützt durch den Sinn und Zweck der Regelung. Nach der Begründung des Gesetzentwurfes sollte mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht langjährig geduldeten Ausländern eine Bleibe- und Integrationsperspektive eröffnet werden; dabei wurde die weitgehende Straffreiheit bzw. das rechtstreue Verhalten des Ausländers als Voraussetzung der Regelung mehrfach besonders hervorgehoben (vgl. BT-Drs. 20/3717 S. 1, 2 unter "B.", 17); der Straffreiheit dürfte nach der Intention des Gesetzgebers dabei auch deshalb besonderes Gewicht zukommen, weil anders als bei früheren sog. Altfallregelungen auch von den Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1, 1a und 4 AufenthG, also der sonst notwendigen Sicherung des Lebensunterhalts, dem Erfordernis der geklärten Identität und der Erfüllung des Passpflicht, abgesehen wurde und die Regelung daher sehr weitgehend ist. Für eine entsprechende Auslegung spricht auch, dass die Regelung wortgleich ist mit den bei Erlass des § 104c AufenthG bereits bestehenden Regelungen in § 25a Abs. 3 AufenthG und § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG, die durchgängig dahingehend kommentiert werden, dass Geldstrafen zu summieren sind bzw. eine Addition nicht grundsätzlich ausgeschlossen wird (vgl. z.B.: Röder in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, Stand: 15.1.2023, § 25a AufenthG Rn. 63; Röcker in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 25a AufenthG Rn. 34; Fränkel in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 25a AufenthG Rn. 18; Göbel-Zimmermann/Hupke in: Huber/Mantel, Aufenthaltsgesetz/Asylgesetz, 3. Aufl. 2021, § 25a AufenthG Rn. 26; Zühlcke in: HTK-AuslR / § 25a AufenthG / zu Abs. 3, Stand: 27.2.2023, Rn. 6; Funke-Kaiser in: GKAufenthG, Stand der Kommentierung: Februar 2012, § 104a AufenthG Rn. 102, 185; Fränkel in: Hofmann, Ausländerrecht, a.a.O., § 104a AufenthG Rn. 16; Fehrenbacher in: HTK-AuslR / § 104a AufenthG / zu Abs. 1, Stand: 18.11.2016, Rn. 46).

26 b) Weiter zutreffend geht das Verwaltungsgericht davon aus, dass bei Überschreitung des dort genannten Strafmaßes nach dem eindeutigen Wortlaut der Regelung ein zwingender Versagungsgrund besteht (vgl. zur insoweit gleichlautenden Vorschrift in § 104a Abs. 1 Nr. 6 AufenthG: BVerwG, Urt. v. 27.1.2009, 1 C 40.07, BVerwGE 133, 72, juris Rn. 14). Soweit in der Begründung des Gesetzentwurfes (BTDrs. 20/3717 S. 45) Abweichungen in atypischen Fallkonstellationen für möglich gehalten werden, bezieht sich dies allein auf die Frage, ob bei Unterschreiten des in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG genannten Strafmaßes von insgesamt 50 bzw. 90 Tagessätzen dennoch das Chancenaufenthaltsrecht im Hinblick auf ein bestehendes Ausweisungsinteresse nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu versagen wäre bzw. hiervon unter Berücksichtigung der Wertung des § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG abgesehen werden müsste (vgl. Dietz, NVwZ 2023, S. 15, 19; Röder in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, Stand: 15.1.2023, § 104c AufenthG Rn. 61 ff.). [...]