OVG Niedersachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 08.08.2023 - 4 LA 219/21 - asyl.net: M31760
https://www.asyl.net/rsdb/m31760
Leitsatz:

Zugang zu existenzsichernder Arbeit nicht durch Sachverständigengutachten aufzuklären:

"Ob ein Asylantragsteller mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle der Rückkehr in sein Heimatland eine existenzsichernde Arbeit finden wird, ist eine vom Gericht vorzunehmende Einschätzung und richterliche Subsumtionsentscheidung, die einem Sachverständigenbeweis nicht zugänglich ist."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Berufungszulassungsantrag, Existenzgrundlage, Abschiebungsverbot, Beweisantrag, Beweisrecht, Sachverständigengutachten, Sachverständigenbeweis, rechtliches Gehör, Gehörsverletzung,
Normen: VwGO § 138 Nr. 3, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3, VwGO § 86 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Eine unzureichende Sachverhaltsaufklärung durch das Verwaltungsgericht als Ausdruck einer Gehörsverletzung liegt nicht vor.

Entgegen der Auffassung des Klägers ist die Ablehnung der Beweisanträge vom 30. März 2021 und vom 15. April 2021 durch das Verwaltungsgericht nicht zu beanstanden. Den in der mündlichen Verhandlung am 30. März 2021 gestellten Beweisantrag, gerichtet auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage, ob der Kläger bei seiner Rückkehr in den Sudan als Informatiker ... eine Arbeit als "Hochqualifizierter" finden wird (vgl. Gerichtsakte, Bl. 82. f.), durfte das Verwaltungsgericht zu Recht mit der Begründung ablehnen, dass die unter Beweis gestellte Tatsache nicht entscheidungserheblich sei [...]. Wie sich aus dem Beschluss vom 30. März 2021 ergibt, ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass der Kläger aufgrund seiner Gesamtqualifikation im Sudan (irgend-) eine Stelle finden wird, durch die er seinen existenziellen Lebensunterhalt sichern kann und dass er zudem über ein soziales Netz verfügt, das ihn in Bezug auf seinen Lebensunterhalt unterstützen kann und ihm die Reintegration in den Arbeitsmarkt erleichtert. Demzufolge kam es für das Verwaltungsgericht nicht entscheidungserheblich darauf an, ob der Kläger bei seiner Rückkehr in den Sudan einen Arbeitsplatz als Informatiker ... finden wird. Der Kläger hat mit seinem Zulassungsantrag auch nicht dargelegt, inwiefern es sich entscheidungserheblich ausgewirkt hätte, wenn bestätigt worden wäre, dass er keine Arbeit als Informatiker bzw. "Hochqualifizierter" im Bereich Administration finden könnte. [...]

Soweit es die unter Ziffern 1 und 2 gestellten Fragen angeht, brauchte das Verwaltungsgericht dem Beweisantrag nicht weiter nachzugehen, da dieser insoweit nicht auf den Beweis konkreter Tatsachen gerichtet ist. Er betrifft vielmehr die Beurteilung der Geeignetheit des familiären bzw. sozialen Netzwerks des Klägers zur Vermittlung von Arbeit. Diese Beurteilung ist eine vom Gericht vorzunehmende Einschätzung und richterliche Subsumtionsentscheidung, die einem Sachverständigenbeweis nicht zugänglich ist [...].

Soweit es die Anträge unter Ziffer 3 und Buchstabe d) angeht, brauchte das Verwaltungsgericht dem Beweisantrag nicht weiter nachzugehen, weil es sich bei der Prüfung der Frage, ob der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle der Rückkehr in den Sudan eine Arbeit finden wird, von der er leben kann, und ob die Unterstützung von IOM mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer auf absehbare Zeit führenden Existenzsicherung führen wird, um eine vom Gericht vorzunehmende Einschätzung und richterliche Subsumtionsentscheidung, die einem Sachverständigenbeweis nicht zugänglich ist, handelt. Darüber hinaus war es aus Sicht des Verwaltungsgerichts für den Ausgang des Verfahrens auch ohne Bedeutung (§ 86 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO analog), ob die Unterstützung von IOM dem Kläger zur Existenzsicherung verhelfen wird, weil es davon ausgegangen ist, dass es dem Kläger angesichts seiner Ausbildung und diversen beruflichen Qualifikationen und Erfahrungen möglich ist, seinen existenziellen Lebensunterhalt selbstständig durch Erwerbsarbeit (als Selbstständiger oder als Angestellter) zu sichern (Urteilsabdruck, S. 14 f.); das Betreuungsangebot von IOM hat das Verwaltungsgericht ausdrücklich als "zusätzliche" Unterstützungsmöglichkeit angesehen (vgl. Urteilsabdruck, S. 15). [...]

Das Tatsachengericht darf einen auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens oder einer amtlichen Auskunft gerichteten Beweisantrag insbesondere in asylgerichtlichen Verfahren, in denen regelmäßig eine Vielzahl amtlicher Auskünfte und sachverständiger Stellungnahmen über die politischen Verhältnisse im Heimatstaat zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden, im Allgemeinen nach tatrichterlichem Ermessen mit dem Hinweis auf eigene Sachkunde verfahrensfehlerfrei ablehnen und die Gefährdungsprognose im Einzelfall auf der Grundlage einer tatrichterlichen Beweiswürdigung eigenständig vornehmen [...] Schöpft das Gericht seine besondere Sachkunde aus vorhandenen Gutachten und amtlichen Auskünften, so muss der Verweis hierauf dem Einwand der Beteiligten standhalten, dass in diesen Erkenntnisquellen keine, ungenügende oder widersprüchliche Aussagen zur Bewertung der aufgeworfenen Tatsachenfragen enthalten sind. [...]

Ausgehend von diesen Maßstäben hat das Verwaltungsgericht sein ihm hinsichtlich der Einholung einer (weiteren) sachverständigen Stellungnahme zustehendes Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Anhaltspunkte dafür, dass sich dem Verwaltungsgericht die Notwendigkeit der vom Kläger beantragten Beweiserhebung hinsichtlich der darin angesprochenen humanitären Verhältnisse im Sudan hätte aufdrängen müssen, sind weder hinreichend dargelegt noch sonst ersichtlich. Das angegriffene Urteil enthält auf S. 12 ff. eingehende, aktuelle und mit Belegen nachgewiesene Äußerungen zu der Nahrungsmittelsicherheit und der Arbeitsmarktsituation im Sudan, sowie dem Einfluss von Regenfällen und Überschwemmungen und den Auswirkungen der Corona-Pandemie. [...]