LG Hannover

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Zitieren als:
LG Hannover, Beschluss vom 17.08.2023 - 53 T 28/22 - asyl.net: M31770
https://www.asyl.net/rsdb/m31770
Leitsatz:

Beabsichtigte Festnahme in Behörde bedarf vorheriger gerichtlicher Anordnung:

1. Beabsichtigt die Ausländerbehörde, eine Person bei Vorsprache festzunehmen, um sie in Abschiebungshaft zu nehmen, bedarf es gemäß Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG grundsätzlich einer vorherigen gerichtlichen Anordnung der Ingewahrsamnahme (sog. Richtervorbehalt).

2. Gemäß § 2 Abs. 14 S. 4 AufenthG gilt im Falle einer Haft aufgrund der Dublin III-VO u.A. nur dann etwas anderes, wenn die Einholung der gerichtlichen Anordnung nicht möglich wäre, ohne den Zweck der Freiheitsentziehung zu gefährden. Plant die Ausländerbehörde die Abschiebung der betroffenen Person schon Wochen vorher, ist es ihr auch möglich, eine entsprechende gerichtliche Anordnung einzuholen. Das gilt insbesondere auch trotz der Unsicherheit, ob die betroffene Person tatsächlich zur Vorsprache erscheinen wird und in Gewahrsam genommen werden kann. Entscheidend ist, dass eine Festnahme konkret beabsichtigt ist. Im Übrigen ist typischerweise unsicher, ob die Vollstreckung einer Haftanordnung gelingen wird. 

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerfG, Beschluss vom 10.02.2022 - 2 BvR 2247/19 (Asylmagazin 7-8/2022, S. 269 ff.) - asyl.net: M30479)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Überstellungshaft, Haftbeschluss, Festnahme, Ingewahrsamnahme, Dublin-Haft,
Normen: GG Art. 104 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 2 Abs. 14 S. 4, VO 604/2013 Art. 28
Auszüge:

[...]

Die Ausländerbehörde hat die vorläufige Ingewahrsamnahme des Betroffenen zum Zwecke der Vorführung vor den zuständigen Richter auf § 2 Abs.14 S. 4 AufenthG gestützt. Hiernach kann ein Ausländer ohne vorherige richterliche Anordnung festgehalten und vorläufig in Gewahrsam genommen werden, wenn der dringende Verdacht für das Vorliegen der Anordnung von Überstellungshaft vorliegt, die richterliche Entscheidung über die Anordnung nicht vorher eingeholt werden kann und der begründete Verdacht vorliegt, dass sich der Ausländer der Anordnung der Überstellungshaft entziehen will.

Diese Voraussetzungen lagen nicht vor. Zwar lag ein dringender Verdacht für das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anordnung von Abschiebehaft vor, der Betroffene war vollziehbar ausreisepflichtig und es lagen auch Haftgründe vor, insoweit wird auf den Beschluss der Kammer vom 21.10.2020 (Az. 53 T 26/20) Bezug genommen. Es ist aber nicht ersichtlich, dass eine richterliche Entscheidung über die Anordnung der Überstellungshaft nicht vor der geplanten Festnahme des Betroffenen am 20.02.2020 hätte eingeholt werden können.

Ob im Falle der Abschiebungshaft der Zweck der Freiheitsentziehung bei Abwarten einer richterlichen Entscheidung nicht erreicht werden kann und daher die Freiheitsentziehung ausnahmsweise ohne vorherige gerichtliche Anordnung erfolgen darf, bestimmt sich danach, ab wann die Ausländerbehörde eine Haftanordnung frühestmöglich hätte erwirken können. Maßgeblich ist, ob bezogen auf diesen Zeitpunkt der Zweck der Freiheitsentziehung gefährdet worden wäre, wenn die Ausländerbehörde sogleich eine richterliche Entscheidung beantragt hätte und diese zeitnah ergangen wäre. Umgekehrt wird der Richtervorbehalt nicht ausgelöst, wenn und solange unklar ist, ob die Abschiebungs- und Abschiebungshaftvoraussetzungen vorliegen (vgl. BVerfG, 07.05.2009, 2 BvR 475/09 und BVerfG, Beschl. v. 10.02.2022 - 2 BvR 2247/19 -, zit. nach juris).

Vorliegend war die Rücküberstellung nach Frankreich seitens der Beschwerdegegnerin bereits seit Februar 2020 geplant und für den 06. März 2020 terminiert. Der konkrete Flug für die Überstellung stand bereits am 11. Februar 2020 fest (Bl. 211 d. Ausländerakte). Auch die Staatsanwaltschaft Aurich wurde mit Schreiben vom 12. Februar 2020 mit Fristsetzung bis zum 18.02.2020 befragt, ob Bedenken gegen die Abschiebung bestehen (Bl. 213 d. Ausländerakte). Die letzte dem Betroffenen am 06.02.2020 ausgehändigte Bescheinigung zur beschränkten Aufenthaltserlaubnis wurde mit Ablauf des 20.02.2020 ungültig (Bl. 208 d. Ausländerakte), weshalb der Betroffene an diesem Tag bei der Ausländerbehörde vorsprach. Die Beschwerdegegnerin musste aufgrund des Umstands, dass dem Betroffenen die vorherigen Bescheinigungen an den vergangenen sieben Terminen zwischen dem 07.11.2019 und dem 06.02.2020 zur Verlängerung der Bescheinigung jeweils ordnungsgemäß ausgestellt werden konnten, damit rechnen, dass der Betroffene auch dieses Mal zur Verlängerung der Bescheinigung bei der Ausländerbehörde erscheinen werde. Jedenfalls spätestens seit dem 18.02.2020 lagen keine Unklarheiten hinsichtlich der Abschiebungs- und Abschiebungshaftvoraussetzungen mehr vor, sodass eine richterliche Entscheidung im Vorfeld hätte beantragt werden können. Es sind auch keine Umstände ersichtlich oder vorgetragen, die bei vorheriger Einholung einer richterlichen Entscheidung den Zweck der Abschiebungshaft gefährdet hätte.

Soweit vorgetragen wird, dass der Betroffene keinen Termin bei der Ausländerbehörde gehabt habe und insoweit die Festnahme nur "abstrakt" geplant war und der konkrete Aufgriffszeitpunkt nicht habe abgeschätzt werden können, so führt diese Erkenntnislage nicht zu einer Entbehrlichkeit einer vorherigen richterlichen Entscheidung. Wenn eine richterliche Haftanordnung vor der Ingewahrsamnahme eines Betroffenen ergeht, ist vielmehr typischerweise unsicher, ob die Vollstreckung der Haftanordnung gelingen wird. Dies ändert aber nichts daran, dass die Ausländerbehörde hier eine nach Zeit und Ort konkret bestimmte Festnahmeabsicht verfolgt hat, bei der die vorherige Einholung einer richterlichen Entscheidung möglich war. (so auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. Februar 2022 - 2 BvR 2247/19 -, Rn. 36 - juris).

Die vorläufige Ingewahrsamnahme des Betroffenen am 20.02.2020 verstößt bis zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftbeschlusses des Amtsgerichts Wittmund am 20.02.2020 gegen Art. 104 Abs.2 GG. Der Betroffene ist dadurch in seinem Recht aus Art.2 Abs.2 S.2 GG verletzt. [...]