Feststellung von Fluchtgefahr bedarf einer Gesamtbetrachtung aller Umstände:
1. § 62 Abs. 3b Nr. 7 AufenthG, wonach ein konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr besteht, wenn eine Person erlaubt eingereist ist, dann vollziehbar ausreisepflichtig geworden ist und keinen Aufenthaltsort hat, an dem sie sich überwiegend aufhält, ist nicht analog auf Fälle anwendbar, in denen eine Person unerlaubt eingereist ist.
2. Auch beim Bestehen eines konkreten Anhaltspunkts für Fluchtgefahr - wie hier gemäß § 62 Abs. 3b Nr. 2 AufenthG wegen der Aufwendung erheblicher Geldbeträge zur unerlaubten Einreise - ist stets anhand einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob tatsächlich Fluchtgefahr besteht. Dabei sind alle Indizien, die für und gegen die Annahme sprechen, die Person werde sich ihrer Abschiebung entziehen, zu berücksichtigen und abzuwägen, unabhängig davon, ob es sich um gesetzlich typisierte Anhaltspunkte (wie in § 62 Abs. 3b AufenthG) handelt.
3. War die betroffene Person wie hier für Ausländerbehörde und Strafverfolgungsbehörden erreichbar und hat sowohl ihre Strafhaft angetreten als auch das afghanische Generalkonsulat aufgesucht sowie erklärt, zur freiwilligen Ausreise bereit zu sein, kann trotz des Anhaltspunkts für Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3b Nr. 2 AufenthG keine Fluchtgefahr angenommen werden.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BGH, Beschluss vom 18.05.2021 - XIII ZB 2/20 - bundesgerichtshof.de)
[...]
2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Beschwerdegericht hat rechtsfehlerhaft den Haftgrund der Fluchtgefahr bejaht.
a) Nicht zu beanstanden ist allerdings, dass das Beschwerdegericht im Streitfall den Tatbestand des § 62 Abs. 3b Nr. 2 AufenthG als erfüllt angesehen hat. Danach kann ein konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr im Sinne des § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG sein, dass der Ausländer zu seiner unerlaubten Einreise erhebliche Geldbeträge, insbesondere an einen Dritten für Einschleusemaßnahmen nach § 96 AufenthG, aufgewandt hat, die nach den Umständen derart maßgeblich sind, dass daraus geschlossen werden kann, dass er die Abschiebung verhindern wird, damit die Aufwendungen nicht vergeblich waren.
aa) Das Beschwerdegericht hat dies auf die Angaben des Betroffenen in seiner Anhörung beim Bundesamt im Juni 2016 gestützt und insoweit festgestellt, seine Familie habe insgesamt etwa 10 Mio. Toman an einen Schleuser gezahlt, was einem Betrag von etwas unter 2.500 € entspreche. [...]
b) Zu Unrecht hat das Beschwerdegericht die Fluchtgefahr jedoch auch darauf gestützt, dass sich der Betroffene überwiegend nicht in der ihm zugewiesenen Unterkunft aufgehalten habe.
aa) Das Beschwerdegericht geht - insoweit zutreffend - davon aus, dass die (unterstellte) unregelmäßige Anwesenheit des Betroffenen in der zugewiesenen Unterkunft nicht den Tatbestand des § 62 Abs. 3a Nr. 3 FamFG erfüllt, wonach Fluchtgefahr widerleglich vermutet wird, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort trotz Hinweises auf die Anzeigepflicht gewechselt hat, ohne der zuständigen Behörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Weder hat das Beschwerdegericht festgestellt, dass der Betroffene seinen Aufenthaltsort gewechselt hat, noch dass ihm ein solcher Hinweis erteilt worden ist. Auch das Amtsgericht hat keine entsprechenden Feststellungen getroffen.
bb) Rechtsfehlerhaft hat das Beschwerdegericht angenommen, der in § 62 Abs. 3b Nr. 7 AufenthG genannte konkrete Anhaltspunkt für Fluchtgefahr könne auch bei einem Ausländer herangezogen werden, der - wie der Betroffene - unerlaubt eingereist ist.
(1) Dem steht bereits der klare Wortlaut der Norm entgegen. Danach kann ein konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr sein, dass ein erlaubt eingereister und vollziehbar ausreisepflichtig gewordener Ausländer dem behördlichen Zugriff entzogen ist, weil er keinen Aufenthaltsort hat, an dem er sich überwiegend aufhält. Für unerlaubt eingereiste Ausländer gilt die Norm demnach gerade nicht.
(2) Entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts kommt, wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt, auch eine entsprechende Anwendung des § 62 Abs. 3b Nr. 7 AufenthG auf unerlaubt eingereiste Ausländer nicht in Betracht. Insoweit fehlt es bereits an einer planwidrigen Regelungslücke. [...]
c) Die Bejahung von Fluchtgefahr durch das Beschwerdegericht erweist sich bei der gebotenen Gesamtbetrachtung aller Umstände als rechtsfehlerhaft.
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist stets durch eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob tatsächlich Fluchtgefahr vorliegt [...]. Dabei sind alle Indizien, die für und gegen die Annahme sprechen, der Ausländer werde sich seiner Abschiebung durch Flucht entziehen, zu berücksichtigen und abzuwägen, wobei auch Umstände Berücksichtigung finden können, die keinen der gesetzlich normierten typisierten Anhaltspunkte erfüllen.
bb) Vor diesem Hintergrund war das Beschwerdegericht zwar grundsätzlich nicht daran gehindert, im Rahmen der Gesamtwürdigung zu berücksichtigen, ob und mit welchen Einschränkungen der Betroffene in der ihm zugewiesenen Unterkunft für die zuständigen Behörden erreichbar war. Die vom Amtsgericht und vom Beschwerdegericht getroffenen Feststellungen tragen indes nicht die Annahme, dass das diesbezügliche Verhalten des Betroffenen darauf hindeutete, er werde sich einer drohenden Abschiebung entziehen. [...]
cc) Danach kann im Streitfall auf Grundlage der getroffenen Feststellungen und der sich aus den im Haftantragsverfahren beigebrachten Unterlagen ergebenden Umstände keine Fluchtgefahr angenommen werden. Vielmehr belegten der Umstand, dass der Betroffene im Sommer 2019 sowohl für die Strafverfolgungsbehörden als auch für die Ausländerbehörde erreichbar war und die Tatsache, dass er sowohl die Strafhaft angetreten als auch das afghanische Generalkonsulat aufgesucht hat, dass er den behördlichen Vorgaben Folge leistete, und sprechen dafür, dass er dies auch im Hinblick auf die Durchführung der Abschiebung getan hätte. Sie stellen somit gewichtige Indizien gegen eine Fluchtgefahr dar. Vor diesem Hintergrund und der akuten Hafterfahrung des Betroffenen kann auch seine Aussage in der persönlichen Anhörung durch den Haftrichter am 2. September 2019, zu einer freiwilligen Ausreise bereit zu sein, um die Haft zu vermeiden, nicht ohne gegenläufige Anhaltspunkte als Schutzbehauptung abgetan werden, und reicht die - immerhin mehr als drei Jahre zurückliegende - Zahlung an eine Schlepperorganisation allein nicht aus, um anzunehmen, der Betroffene werde sich der Abschiebung durch Flucht entziehen. [...]