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VG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
VG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 23.08.2023 - 3 L 63/23 - asyl.net: M31998
https://www.asyl.net/rsdb/m31998
Leitsatz:

Suchterkrankung und nicht angetretene freiwillige Ausreise können Erteilung eines Chancen-Aufenthaltsrechts entgegenstehen:

1. Die Erteilung eines Chancen-Aufenthaltsrechts liegt bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen im Ermessen der Behörde. Der Ermessensrahmen ist bei der Entscheidung über den Antrag des Antragstellers auf Erteilung eines Chancen-Aufenthaltsrechts nicht durch § 104c AufenthG von vornherein im Sinne eines intendierten Ermessens zu Gunsten der antragstellenden Person eingeschränkt.

2. Tritt eine vollziehbar ausreisepflichtige Person eine bereits organisierte freiwillige Ausreise nicht an, rechtfertigt das die Ablehnung der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Wege des Ermessens. Auch das Vorliegen einer Suchterkrankung kann der Erteilung eines Chancenaufenthaltsrechts entgegenstehen.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 01.06.2023 - 2 M 49/23 - asyl.net: M31629; Anmerkung der Redaktion: Das VG Frankfurt/Oder verkennt die allgemeine Systematik des Ermessens. Handelt es sich - wie hier bei § 104c AufenthG - um eine "Soll"-Vorschrift ["Einem geduldeten Ausländer soll [...] eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden ..."], ist die Aufenthaltserlaubnis bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen in der Regel zu erteilen. Nur beim Vorliegen atypischer Umständen kann anders entschieden werden. Ob solche atypischen Umstände vorliegen und das Ermessen deshalb eröffnet ist, prüft das VG Frankfurt/Oder jedoch nicht.)

Siehe auch:

  • Bundesministerium des Innern, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 23.12.2022 - (Asylmagazin 1-2/2023, S. 33) - asyl.net: M31183
Schlagwörter: Chancen-Aufenthaltsrecht, freiwillige Ausreise, einstweilige Anordnung, Soll-Vorschrift, Ermessen,
Normen: AufenthG § 104c Abs. 1, VwGO § 123,
Auszüge:

[...]

An diesen Grundsätzen gemessen hat der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung bis zum rechtskräftigen Abschluss seines Rechtsbehelfsverfahrens gegen die Versagung des beantragten Chancenaufenthaltsrechts nach § 104c Abs. 1 S. 1 AufenthG.

1. Nach dieser Vorschrift soll einem geduldeten Ausländer abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1, 1a und 4 sowie § 5 Abs. 2 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat und er – erstens – sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt und – zweitens – nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, oder Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht, die nicht auf Jugendstrafe lauten, grundsätzlich außer Betracht bleiben. Nach S. 2 der genannten Bestimmung soll die Aufenthaltserlaubnis versagt werden, wenn der Ausländer wiederholt vorsätzlich falsche Angaben gemacht oder über seine Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht hat und dadurch seine Abschiebung verhindert. Für die Anwendung des Satzes 1 sind auch die
in § 60b Abs. 5 S. 1 genannten Zeiten anzurechnen. 

2. Insoweit kann offenbleiben, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 104c Abs. 1 S. 1 AufenthG vorliegen.

a) Die Kammer teilt allerdings nicht die Bedenken des Antragsgegners, wonach bei der Fristbestimmung die Zeit von der Einreise des Antragstellers im September 2017 bis zum 5. Dezember 2017 außer Betracht bleiben müsse, weil der Antragsteller statt seines tatsächlichen Geburtstages (... 1998) wahrheitswidrig den ... 2002 angegeben und sich dadurch den Status eines Minderjährigen verschafft habe. Bei wahrheitsgemäßer Angabe habe der Antragsteller – so die Auffassung des Antragsgegners – sich nämlich gemäß § 22 AsylG unverzüglich zu einer Aufnahmeeinrichtung begeben und dort seinen Asylantrag stellen müssen. Das habe er nicht getan, sondern seinen Asylantrag erst am 6. Dezember 2017 gestellt, sodass ihm erstmals an diesem Tage eine Aufenthaltsgestattung ausgestellt worden sei, mithin die davor verstrichene Zeit unberücksichtigt bleiben müsse. Insoweit spricht allerdings Überwiegendes dafür, dass der Antragsteller selbst dann, wenn die von ihm wegen seiner Falschangabe in einer Jugendhilfeeinrichtung verbrachte Zeit ganz oder teilweise nicht über eine Aufenthaltsgestattung in die gesetzliche Frist einzurechnen sein sollte, sie
doch auch nicht außer Betracht zu lassen ist, weil ihm wegen seiner damaligen Passlosigkeit ein Duldungsanspruch zugestanden haben dürfte. 

b) Während danach davon auszugehen ist, dass der Antragsteller nach seiner Einreise am ... 2017 die fünfjährige Frist eines geduldeten, gestatteten oder erlaubten Aufenthalts bis zum 31. Oktober 2022 erfüllt haben dürfte, kann offenbleiben, ob dieser rechtliche Status zumindest im Zeitpunkt der Antragstellung auf Erteilung des Chancen-Aufenthaltsrechts noch bestehen oder darüber hinaus noch im Zeitpunkt der behördlichen bzw. gerichtlichen Entscheidung andauern muss. So bedarf weder einer tatsächlichen Aufklärung, ob der Antragsteller seinen Antrag auf Erteilung des Chancen-Aufenthaltsrechts tatsächlich bereits am 16. Februar 2023 gestellt hat, zu einer Zeit also, als er (noch) Inhaber seiner letzten, bis zum 2. März 2023 befristeten Duldung war. Noch muss rechtlich abschließend bewertet werden, ob es auf den vorstehenden Aspekt schon deshalb nicht (mehr) ankommt, weil der Antragsteller jedenfalls im Zeitpunkt der gegenwärtigen gerichtlichen Entscheidung nicht nur kein durch eine diesbezügliche Bescheinigung legitimierter "geduldeter Ausländer" im Sinne der einschlägigen Bestimmung mehr ist, sondern nach der Einreichung seines Reisepasses und der damit verbundenen Beendigung seiner Passlosigkeit als Grund des Abschiebungshindernisses er nunmehr erkennbar auch keinen materiellen Anspruch auf weitere Aussetzung seiner Abschiebung mehr hat (so wohl die Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, Beschluss vom 6. März 2023 – 19 CE 22.2647 –, Rn. 25; Beschluss vom 9. März 2023 – 19 CE 23.183 –, Rn. 35; VG Dresden, Beschluss vom 26. Juni 2023 – 3 L 262/23 –, Rn. 26, alle zitiert nach juris). 

3. Im Ergebnis kommt es auf die Frage, ob der Antrag des Antragstellers die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 104c Abs. 1 S. 1 AufenthG erfüllt, nicht an. Denn die Erteilung eines Chancen-Aufenthaltsrechts liegt im Ermessen der Behörde. Es sind jedoch unter den Umständen des vorliegenden Sachverhalts keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass die diesbezügliche durch den Antragsgegner zu treffende Entscheidung im Sinne eines gebundenen Ermessens nur zugunsten des Antragstellers ergehen darf oder auch nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine positive Entscheidung besteht, die es rechtfertigen könnte, nach dem oben angeführten Begründetheitsmaßstab die Voraussetzungen einer Verfahrensduldung zu bejahen. 

a) Der Ermessensrahmen des Antragsgegners bei der Entscheidung über den Antrag des Antragstellers auf Erteilung eines Chancen-Aufenthaltsrechts ist nicht durch § 104c AufenthG von vornherein im Sinne eines intendierten Ermessens zu seinen Gunsten eingeschränkt. Das ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und der Systematik des Gesetzes. Während nämlich die genannte Vorschrift in Abs. 1 bestimmt, dass bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden "soll", und zwar selbst dann, wenn damit von in § 5 des Gesetzes bestimmten allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen abgewichen wird, normiert § 104c Abs. 3 AufenthG, dass in Fällen, in denen – wie hier – ein voraus - gegangener Asylantrag nach § 30 Abs. 3 Nummer 1 bis 6 AsylG abgelehnt wurde, abweichend von § 10 Abs. 3 S. 2 desselben Gesetzes die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden "kann". Bei der erstgenannten Personengruppe soll nach dem Willen des Gesetzgebers die Aufenthaltserlaubnis in der Regel erteilt werden; Ausnahmen sind nur bei Vorliegen atypischer Umstände denkbar (BT-Drs. 20/3717, Seite 44). Die demgegenüber mit der Gesetzesfassung angelegte Schlechterstellung von Asylbewerbern, deren Asylantrag nach  § 30 Abs. 3 Nummer 1 bis 6 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden war, beruht auf dem Umstand, dass ihnen abgesehen von gebundenen Erteilungsansprüchen gemäß § 10 Abs. 3 S. 2 AufenthG vor der Ausreise kein Aufenthaltstitel erteilt werden darf. Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber sie über die Durchbrechung der in § 104c Abs. 3 S. 1 AufenthG normierten Titelerteilungssperre hinaus begünstigen und sie anderen tatbestandlich Anspruchsberechtigten gleichstellen wollte, indem auch bei ihnen das in § 104c Abs. 1 AufenthG angelegte intendierte Ermessen für eine Titelerteilung eingreift, sind nicht ersichtlich. 

b) Die vom Antragsgegner bei der Antragsablehnung bisher angestellten Ermessenserwägungen sind zwar nicht sämtlich tragfähig, vermögen aber, soweit sie in dieser Hinsicht beanstandungsfrei sind, eine derartige Entscheidung zu tragen. 

aa) Entgegen der im Ablehnungsbescheid vom 12. Juni 2023 vertretenen Auffassung kann dem Antragsteller nicht entgegengehalten werden, dass er wiederholt vorsätzlich falsche Angaben gemacht oder über seine Identität getäuscht und dadurch seine Abschiebung verhindert hat. Zumindest das Letztere trifft nicht zu. Der Antragsgegner knüpft damit an den in § 104c Abs. 1 S. 2 AufenthG normierten Versagungsgrund an. Nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. hierzu Bundestags-Drucksache – BT-Drs. 20/3717, Seite 45; hierzu auch Dietz in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 104c Rn. 40) soll dieser aber nur eingreifen, wenn ein aktives, eigenverantwortliches Verhalten des Ausländers vorliegt, das kausal für die Verhinderung der Aufenthaltsbeendigung ist. Bei mehreren Ursachen muss die Falschangabe bzw. Täuschung wesentlich ursächlich gewesen sein, was insbesondere bei aus anderen Gründen tatsächlicher Unmöglichkeit der Aufenthaltsbeendigung nicht der Fall sein soll. Hiernach kann nicht davon ausgegangen werden, dass die im Zeitpunkt der Einreise des Antragstellers im September 2017 erfolgte Datierung seines Geburtsdatums auf den 9.
September 2003 angesichts des Umstandes, dass spätestens seit Dezember 2017 bzw. Januar 2018 sein wahres Geburtsdatum im Jahr 1998 feststand und auch von ihm selbst wohl nicht mehr in Abrede gestellt wurde, diese Täuschung wesentlich ursächlich für die Unmöglichkeit seiner Abschiebung während der folgenden Jahre war, seit er mit der Ablehnung seines Asylantrages durch den bereits erwähnten Bescheid vom 28. März 2018 vollziehbar ausreisepflichtig wurde. 

bb) Offen bleiben kann, ob allein oder im Zusammenspiel mit anderen Erwägungen berücksichtigt werden darf, dass dem Antragsteller soweit ersichtlich bisher keine wirtschaftliche Integration gelungen ist, sondern er wohl erst jetzt eine Arbeit aufnehmen will. In Fällen, in denen die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 104c Abs. 1 S. 1 AufenthG vorliegen und ein vorausgegangener Asylantrag nicht als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden war, das behördliche Ermessen also durch die einschlägige Soll-Bestimmung gelenkt ist, bestünden allerdings Bedenken, diesem Aspekt eine die Ermessensentscheidung tragende Bedeutung zuzubilligen. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers soll nämlich mit dem Chancen- Aufenthaltsrecht dem Bedürfnis der seit Jahren im Bundesgebiet lebenden geduldeten und zumeist gut integrierten Ausländer nach einer Aufenthaltsperspektive in Deutschland Rechnung getragen werden. Ihnen soll mit der Erteilung der auf ein Jahr begrenzten Aufenthaltserlaubnis die Chance eingeräumt werden, noch fehlende Voraussetzungen für einen dauerhaften Aufenthalt nachzuholen. Hierzu gehören neben der
Identitätsklärung sowie dem Erwerb der erforderlichen Kenntnisse der deutschen Sprache gerade auch die Lebensunterhaltssicherung (vgl. insgesamt hierzu BT-Drs. 20/3717, Seite 16). Anders könnte es aber in einem Fall wie dem vorliegenden sein, in dem der Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden war und deshalb über die Erlaubniserteilung lediglich nach einem durch den Gesetzgeber nicht weiter gelenkten pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden ist. Immerhin erscheint es insoweit nicht von vornherein ausgeschlossen, in Fällen, in denen sich die Annahme des Gesetzgebers, die seit Jahren hier lebenden geduldeten Ausländer seien zumeist gut integriert, im Einzelfall nicht bestätigt hat, dies im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen (a.A. wohl Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen- Anhalt, Beschluss vom 1. Juni 2023 – 2 M 49/23 –, juris Rn. 18). [...]