Abschiebungsverbote für Yezid:innen aus der Provinz Ninive (Irak) nur im Einzelfall:
"1. Angehörigen der yezidischen Glaubensgemeinschaft droht in der Provinz Ninive (Irak) aktuell weder durch den irakischen Staat noch durch den IS oder durch sonstige nichtstaatliche Dritte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ihre Religionszugehörigkeit anknüpfende Verfolgung als Gruppe.
2. Bei der Betrachtung der Verhältnisse in der Herkunftsregion stellt der Senat abweichend von seinen vorherigen Entscheidungen auf die gesamte Provinz Ninive ab.
3. Örtlicher Bezugspunkt für die im Rahmen der Prüfung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzustellende Prognose, ob eine Abschiebung ausgeschlossen ist, weil dem Ausländer im Aufnahmeland eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung droht, ist zunächst der tatsächliche Zielort der Abschiebung. Dies ist in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird.
4. Die derzeitigen Lebensbedingungen und humanitären Verhältnisse in der Provinz Ninive begründen nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen nicht für jeden dorthin zurückkehrenden Yeziden mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit ein ernsthaftes Risiko eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK. Vielmehr bedarf es für die im Rahmen der Prüfung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu treffende Gefahrenprognose einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse und persönlichen Merkmale des betreffenden Ausländers."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG. [...]
Nach diesen Maßstäben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen. Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist nicht anzunehmen, dass ihr bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im dargestellten Sinne droht. Eine individuelle Verfolgung hat die Klägerin nicht geltend gemacht (a)). Auf der Grundlage der im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vorliegenden aktuellen Erkenntnisse ist auch eine Gruppenverfolgung von Yeziden in der Provinz Ninive nicht beachtlich wahrscheinlich (b)).
a) Anhaltspunkte für eine erlittene oder drohende individuelle Verfolgung der Klägerin lassen sich ihrem Vorbringen nicht entnehmen. Ein individuelles Verfolgungsschicksal hat die Klägerin in ihrer Anhörung beim Bundesamt wie auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nicht geschildert. Sie beruft sich allein auf eine Verfolgung als Angehörige der Religionsgemeinschaft der Yeziden (dazu unter b.), von der sie - wie jedes andere Mitglied der verfolgten Gruppe auch - wegen des gruppenspezifischen Merkmals des yezidischen Glaubens betroffen sei.
b) Wegen ihres yezidischen Glaubens ist die Klägerin bei einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion im Irak, die Provinz Ninive (einschließlich des Distrikts Sindjar), nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Gruppenverfolgung ausgesetzt. [...]
Nach diesen Maßstäben ist der Senat unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Erkenntnisse zur aktuellen Lage im Irak zu der Überzeugung gelangt, dass eine Gruppenverfolgung von Yeziden in der Provinz Ninive derzeit nicht beachtlich wahrscheinlich ist. Angehörigen der yezidischen Glaubensgemeinschaft droht dort aktuell weder durch den irakischen Staat (dazu aa)) noch durch den IS (dazu bb)) oder durch sonstige nichtstaatliche Dritte (dazu cc)) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ihre Religionszugehörigkeit anknüpfende Verfolgung als Gruppe.
Bei der Betrachtung der Verhältnisse in der Herkunftsregion stellt der Senat abweichend von seinen vorherigen Entscheidungen auf die gesamte Provinz Ninive ab (so auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 7. Dezember 2021 - A 10 S 2175/21 -, juris Rn. 15).
Die frühere "kleinteiligere", auf die jeweiligen Distrikte und Subdistrikte bezogene Senatsrechtsprechung (vgl. Senatsurteile vom 10. Mai 2021 - 9 A 570/20.A -, juris Rn. 40 (Sindjar), vom 12. Oktober 2021 - 9 A 549/18.A -, juris Rn. 38 (Tel Kef), und vom 21. Dezember 2022 – 9 A 1740/20.A -, juris Rn. 42 (Sindjar) sowie Beschluss vom 5. Juni 2020 - 9 A 2885/18.A -, juris Rn. 20 (Subdistrikt Al Kosh) war dem Umstand geschuldet, dass die Angriffe des IS nur in einigen Gebieten der Provinz der Ninive erfolgten und infolgedessen die tatsächlichen Verhältnisse in den jeweiligen Distrikten der Provinz erheblich voneinander abwichen. Für eine solche Differenzierung bieten die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse in der Provinz Ninive derzeit keine Veranlassung mehr.
aa) Eine systematische Verfolgung von Yeziden durch den irakischen Staat wegen ihrer Religionszugehörigkeit findet im Irak nicht statt. [...]
bb) Es besteht derzeit auch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine vom IS ausgehende (erneute) Gruppenverfolgung der Yeziden in der Provinz Ninive. [...]
cc) Es sind auch weiterhin keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass Yeziden in der Provinz Ninive derzeit eine Gruppenverfolgung durch andere nicht-staatliche oder staatliche Akteure droht. Das gilt zum einen mit Blick auf Handlungen der PMF (vgl. OVG NRW, Urteil vom 21. Dezember 2022 - 9 A 1740/20.A -, juris Rn. 140 ff.).
Zum anderen sind auch Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung von Yeziden in der Provinz Ninive durch die dort lebende muslimische Bevölkerung nicht ersichtlich (vgl. OVG NRW, Urteil vom 10. Mai 2021 - 9 A 570/20.A -, juris Rn. 215 ff.). [...]
II. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die hilfsweise begehrte Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG.[...]
III. Die Klägerin hat ferner keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG (dazu 1.) oder nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (dazu 2.) in Bezug auf den Irak. [...]
Nach diesen Maßstäben besteht für die Klägerin keine Gefahr, bei einer Rückkehr in den Irak einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Bei der Beurteilung der allgemeinen Lage im Zielstaat ist insoweit zunächst auf die Verhältnisse in der Provinz Ninive als Herkunftsregion der Klägerin abzustellen (a)). Diese kann sie auch unter zumutbaren Bedingungen erreichen (b)). In der Provinz Ninive droht ihr unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Umstände weder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch staatliche sowie nichtstaatliche Akteure noch aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage (c)). Auch begründen die derzeitigen humanitären Verhältnisse in der Provinz Ninive für die Klägerin nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung (d)). [...]
c) In der Provinz Ninive droht der Klägerin unter Berücksichtigung der Ausführungen zu § 3 Abs. 1 AsylG sowie zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nach den derzeitigen Verhältnissen keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure (insbesondere den IS). Auch die allgemeine Sicherheitslage in dieser Provinz rechtfertigt nicht die Annahme, dass die Klägerin bei ihrer Rückkehr der Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die obigen Ausführungen zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 2 und 3 AsylG Bezug genommen.
d) Die derzeitigen humanitären Verhältnisse in der Provinz Ninive begründen nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen nicht für jeden dorthin zurückkehrenden Yeziden mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit ein ernsthaftes Risiko eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK. [...]
Hiervon ausgehend verletzt eine Abschiebung in den Irak (einschließlich der Provinz Ninive) aufgrund der dortigen schlechten humanitären Verhältnisse nur in ganz besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung sprechen, Art. 3 EMRK. Zwar sind in einigen Distrikten der Provinz Ninive, insbesondere im Distrikt Sindjar, durch die Angriffe des IS große Teile der Infrastruktur (Gebäude, landwirtschaftliche Betriebe, Wasserversorgung) zerstört worden. Jedoch können die derzeitigen humanitären Verhältnisse nicht mehr als von den Konfliktparteien bzw. dem IS maßgeblich verursacht angesehen werden, auch wenn dessen Handlungen noch fortwirken. Nachdem der IS im Dezember 2017 besiegt worden ist, haben in den seither vergangenen sechs Jahren die irakische Regierung, die Vereinten Nationen, zahlreiche Staaten und hunderte nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen sich - bis heute - am Aufbau der zerstörten Infrastruktur beteiligt und humanitäre Hilfe in verschiedenen Bereichen (etwa Versorgung mit Nahrungsmitteln, Unterbringung und Gesundheitsfürsorge) geleistet. Mit Blick hierauf ist die derzeitige humanitäre Situation in der Provinz Ninive entscheidend geprägt durch die allgemein schwierige wirtschaftliche Lage im Irak sowie fehlende Mittel für einen umfassenden und zügigen Wiederaufbau (ebenso Nds. OVG, Urteil vom 24. September 2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 115 i. V. m. Rn. 70; noch offen gelassen im Senatsurteil vom 10. Mai 2021 - 9 A 570/20.A -, juris Rn. 391 (für das Gebiet der ARK)).
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs begründen die Lebensbedingungen und humanitären Verhältnisse in der Provinz Ninive, soweit diese Ausdruck der allgemeinen Situation im Zentralirak sind (aa)), aber auch im Hinblick auf die insbesondere aus dem IS-Konflikt resultierenden Verhältnisse in der Provinz Ninive (bb)), nicht für jeden zurückkehrenden Yeziden losgelöst von den Umständen des Einzelfalls eine Verletzung von Art. 3 EMRK. Im Fall der Klägerin liegen keine besonderen individuell erschwerenden Umstände vor, die ein erhöhtes Risiko einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung begründen könnten (cc)).
aa) Im Zentralirak ist die wirtschaftliche Situation insgesamt schwierig. [...]
Die Armutsrate ist im Irak, einhergehend mit einer Arbeitsmarktbeteiligung, die schon vor der Pandemie eine der niedrigsten der Welt war, weiterhin hoch. Schätzungsweise 25 % der Bevölkerung und damit 9 bis 11 Millionen. der rund 42 Millionen Einwohner gelten als arm. [...]
bb) Die Lage in der Provinz Ninive, die von den Folgen des IS-Angriffs am meisten betroffen war, hat sich der Situation im übrigen Gebiet des Zentraliraks weiter angenähert. In Ninive leben zwischenzeitlich wieder über 4 Millionen Menschen (vgl. EUAA, Country Guidance: Iraq, Juni 2022, S. 210).
Bei rund der Hälfte hiervon, 1.953.714 Menschen, handelt es sich um Personen, die aufgrund des IS-Angriffs oder der nachfolgenden militärischen Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und dem IS in andere Provinzen geflohen waren und inzwischen wieder zurückgekehrt sind (vgl. IOM, Displacement Tracking Matrix (DTM): Return Index, Stand 31. August 2023). [...]
(3) Die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts durch Erwerbstätigkeit ist in der Provinz Ninive allgemein schwierig. Die Arbeitsmöglichkeiten sind in der Provinz Ninive niedriger als im Rest des Landes, was sich in einer Arbeitslosenquote von 32,8 %, der höchsten im Irak, widerspiegelt (UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Humanitarian Situation, 23. Mai 2023, S. 14).
Besonders ausgeprägt ist die Arbeitslosigkeit in den Distrikten Hamdaniyah, Tal Afar und Sindjar. Gleichwohl gibt es auch im Distrikt Sindjar Landwirtschaft, Kleingewerbe und industrielle Arbeitsmöglichkeiten. [...]
Die Probleme beim Zugang zum Lebensunterhalt im Distrikt Sindjar sind im Kern vergleichbar mit den landesweit bestehenden Schwierigkeiten. [...]
(4) Der Zugang zu angemessenem, gesicherten Wohnraum einschließlich sanitärer Einrichtungen in der Provinz Ninive hat sich in den letzten Jahren verbessert. Für Personen ohne ein stabiles Einkommen und solche, die nicht über zivile (Identitäts-)Dokumente verfügen, ist er aber weiter schwierig. [...]
Im Distrikt Sindjar ist die Grundstücks- und Eigentumssituation besonders schwierig, wovon insbesondere Mitglieder der yezidischen Gemeinschaft betroffen sind.[...]
(5) Darüber hinaus besteht jedenfalls für Personen, die infolge der Angriffe des IS von ihren Wohnorten vertrieben wurden, auch die Möglichkeit, in einem Flüchtlingslager unterzukommen.
Auf dem Gebiet der Provinz Ninive bestehen noch sieben Flüchtlingslager: Essian, Mamilian, Mamrashan, Sheikhan, Hasansham U2, Hasansham U3 und Khazer M1. Diese werden derzeit von den Behörden der ARK unterhalten und beherbergten in den Jahren 2021/2022 insgesamt 45.000 Binnenvertriebene. Anhaltspunkte für die Annahme, dass ein Zugang zu diesen Flüchtlingslagern nicht (mehr) möglich ist, sind nicht erkennbar (vgl. UNHCR, Ability od Iraqis to Legally Access and Settle Durably in Proposed Areas of Internal Relocation, November 2022, S. 1 f.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Humanitarian Situation, 23. Mai 2023, S. 32). [...]
Die Unterbringung in einem der genannten Flüchtlingslager ist jedenfalls für Haushalte mit einem männlichen Haushaltsvorstand regelmäßig zumutbar. Bei alleinstehenden oder alleinerziehenden Frauen bedarf es einer differenzierten Betrachtung, da diese Berichten zufolge in einigen Binnenvertriebenenlagern verbalen und körperlichen Belästigungen einschließlich Vergewaltigungen, sonstigen sexuellen Übergriffen und Ausbeutung durch andere Lagerbewohner, aber auch durch staatliche Kräfte ausgesetzt waren (vgl. USDOS, 2022 Country Reports on Human Rights Practices: Iraq, 20. März 2023, S. 25). [...]
(6) Die Möglichkeiten des Zugangs zu öffentlichen Gesundheitseinrichtungen, Gesundheitszentren und Krankenhäusern, unterscheiden sich je nach Lage des Wohnortes. Im Grundsatz gilt hier wie auch bei den übrigen Aspekten der Lebensunterhaltssicherung, dass die Versorgung in städtischen Regionen wie Mosul besser ist als in ländlichen Gebieten.
Im Distrikt Sindjar sind die zerstörten medizinischen Einrichtungen in großen Teilen wiederhergestellt. Allgemeine Krankenhäuser sind in den Städten Sindjar und Sinune vorhanden. Da das Krankenhaus in Sindjar aber im Verlauf einer Militäroperation beschädigt worden ist, stehen von den früher vorhandenen 130 Krankenhausbetten nur noch 53 zur Verfügung. Beide Krankenhäuser verfügen aufgrund eines Mangels an geeignetem Personal nur über begrenzte Kapazitäten zur Behandlung komplexer Fälle. [...]
cc) Von dem Vorstehenden ausgehend ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass die Lebensbedingungen und humanitären Verhältnisse in der Provinz Ninive zwar schwierig sind, aber nicht für jeden dorthin zurückkehrenden Yeziden die Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung begründen. Vielmehr bedarf es für die zu treffende Gefahrenprognose einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse und persönlichen Merkmale des betreffenden Ausländers (vgl. so schon OVG NRW, Urteil vom 10. Mai 2021 - 9 A 570/20.A -, juris Rn. 393).
Nach Maßgabe der danach gebotenen individuellen Betrachtung ist festzustellen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in die Provinz Ninive ihre elementaren Bedürfnisse wie Unterkunft, Nahrung, Wasser und Hygiene wird befriedigen können und dass sie erforderlichenfalls Zugang zu einer medizinischen Basisversorgung erhält. Insoweit geht der Senat davon aus, dass die Klägerin gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren Kindern, die sechs bzw. vier Jahre alt sind, in den Irak zurückkehren wird. [...]