AG Darmstadt

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Zitieren als:
AG Darmstadt, Beschluss vom 04.01.2024 - 276 XIV 671/23 - asyl.net: M32078
https://www.asyl.net/rsdb/m32078
Leitsatz:

Haftantrag mangels hinreichender Darlegung der Ausreisepflicht rechtswidrig:

1. Ein den Vorgaben des § 417 Abs. 2 FamFG entsprechender Haftantrag muss die Ausreisepflicht der betroffenen Person hinreichend darlegen. Dabei muss u.A. dargelegt werden, dass ein die Ausreisepflicht begründender Bescheid bekannt gegeben bzw. zugestellt wurde. Das Haftgericht hat anhand dessen zu überprüfen, ob der entsprechende Bescheid wirksam zugestellt wurde oder gemäß § 10 AsylG als zugestellt gilt.

2. Im vorliegenden Fall wurde der Bescheid nicht tatsächlich zugestellt, und auch die Zustellungsfiktion des § 10 AsylG greift nicht, weil der Bescheid aufgrund einer Mitteilung des Landratsamts an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF] an eine falsche Adresse versandt wurde. Der Haftantrag war deshalb abzulehnen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Rückkehrentscheidung, Zustellung, Überstellungshaft, Zustellungsfiktion, Nachweis der Zustellung, Adressänderung, Mitwirkungspflicht,
Normen: FamFG § 417 Abs. 2, AsylG § 10
Auszüge:

[...]

Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist ein Haftantrag nur, wenn er den Vorgaben des § 417 Abs. 2 FamFG entspricht. [...]

Diesen Vorgaben genügt der Haftantrag nicht.

Es fehlt an einer hinreichenden Darlegung der vollziehbaren Ausreisepflicht. Erforderlich sind nachvollziehbare Angaben zu den Voraussetzungen einer gesetzlichen Ausreisepflicht oder einer entsprechenden Bescheidlage nebst Bekanntgabe bzw. Zustellung. Insofern können die Bescheide vollständig referiert (BGH Beschl. v. 22.6.2017 - V ZB 127/16 - InfAuslR 2017, 345 - juris - Rn. 7) oder es kann auf Anlagen Bezug genommen werden (BGH Beschl. v. 11.1.2018 - V ZB 28/17 – juris - Rn. 5). Anlagen ohne Inbezugnahme sind unbeachtlich (BVerfG Beschl. v. 9.2.2012 - 2 BvR 1064/10 - InfAuslR 2012, 186 - juris - Rn. 24; BGH Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 28/10 - NVwZ 2010, 1511 - juris - Rn. 12).

Nach diesem Maßstab ist für das Gericht nicht ersichtlich, dass der ablehnende Asylbescheid vom 04.05.2023 dem Betroffenen wirksam zugestellt wurde. Die dem Gericht die für die eigenständige Prüfung einer wirksamen Zustellung erforderlichen Tatsachen werden nicht mitgeteilt. Vielmehr ist nach dem Ergebnis der haftrichterlichen Anhörung und der ergänzenden Beweisaufnahme anhand der Ausländerakte nicht von einer wirksamen Zustellung bzw. Zustellungsfiktion auszugehen.

Eine tatsächliche Zustellung an den Betroffenen ist ausweislich der Zustellungsurkunde (Bl. 44 der Ausländerakte) nicht erfolgt. Dort wurde angegeben, dass der Betroffene an der vom ВАМF angenommenen Adresse in К. nicht bekannt ist. Ein weiterer Zustellungsversuch wurde nicht unternommen.

Eine Zustellungsfiktion gemäß § 10 AsylG ist ebenfalls nicht eingetreten.

Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG muss der Ausländer Zustellungen und formlose Mitteilungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle auf Grund seines Asylantrages oder seiner Mitteilung bekannt ist, gegen sich gelten lassen. Das Gleiche gilt, wenn die letzte bekannte Anschrift, unter der der Ausländer wohnt oder zu wohnen verpflichtet ist, durch eine öffentliche Stelle mitgeteilt worden ist.

Die letzte dem BAMF auf Grund des Antrags des Betroffenen bekannte Anschrift war die Erstaufnahmeeinrichtung in Kassel. Diese Anschrift ist im Bescheid vom 04.05.2023 genannt. An dieser Anschrift wurde jedoch kein Zustellungsversuch unternommen. Der Zustellungsversuch wurde unter der Zuweisungsadresse des Betroffenen in der ... Str. in К. unternommen. Bei dem in der Ausländerakte befindlichen Asylbescheid wurde die ursprüngliche Adresse handschriftlich durchgestrichen und die Adresse in K. handschriftlich ergänzt. Wann und von wem diese Ergänzung vorgenommen wurde, ergibt sich aus der Akte nicht.

Bei der Adresse in К. handelt es sich um eine gemäß § 10 Abs. 2 S. 2 AsylG von einer anderen öffentlichen Stelle mitgeteilte Anschrift. Diese Adresse wurde dem BAMF vom Landratsamt Schwalm-Eder-Kreis mitgeteilt (Bl. 40 der Ausländerakte). Das Schreiben datiert zwar auf den 11.05.2023. Abgezeichnet ist das Schreiben jedoch erst am 23.05.2023. Diese von dem Landratsamt mitgeteilte Adresse ist jedoch nicht geeignet, die Zustellungsfiktion gemäß § 10 AsylG auszulösen.

Dem Landratsamt war nämlich zu diesem Zeitpunkt, mithin am 23.05.2023, bereits bekannt, dass sich der Betroffene nicht mehr in К., sondern in S. aufhält. Dass die Behörde diese Information bereits hatte, ergibt sich aus einem auf den 17.05.2023 datierten Vermerk (Bl. 41 der Ausländerakte). Dort ist festgehalten, dass am 23.05.2023 die Verlegung des Betroffenen nach S. erfolgen soll. Warum dann am selben Tage, an dem der Betroffene nach S. verlegt wurde, von der Behörde, welche die Verlegung beantragt hat, eine falsche Adresse an das BAMF mitgeteilt wurde, ist nicht ersichtlich.

Die Mitteilung einer falschen Adresse an das BAMF kann jedoch nach dem Sinn und Zweck des § 10 AsylG keine Fiktionswirkung zulasten des Betroffenen auslösen (vgl. VG München, Urteil vom 14.03.2017 - 7 К 17.30072 - BeckRS, Rn. 14).

Darüber hinaus kann nach obergerichtlicher Rechtsprechung dann nicht von einer Fiktionswirkung ausgegangen werden, wenn der Adressat in einer mit dem Rechtsstaatsprinzip und der Garantie effektiven Rechtsschutzes nicht vereinbaren Weise durch grobe, die Bekanntgabefiktion auslösende Fehlhandlungen Dritter um die Durchsetzbarkeit seiner Rechte gebracht wurde (vgl. OVG Bautzen, BeckRs 2012, 218423).

Eine solche Fehlhandlung zulasten des Betroffen liegt hier vor. Das Landratsamt hat dem BAMF eine Adresse mitgeteilt, an der der Betroffene zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wohnhaft war, was der Behörde auch bekannt sein musste, da sie die Verlegung des Betroffenen selbst veranlasst hatte. Jedenfalls hatte bei Bekanntwerden der gescheiterten Zustellung oder bei verzögerter Informationserlangung durch das BAMF ein erneuter Zustellungsversuch erfolgen müssen (vgl. OVG Bautzen, BeckRS 2021, 31822).

Die fehlerhafte Kommunikation zwischen den Behörden kann jedenfalls nicht zulasten des Betroffenen gehen. In diesem Fall ist auch nicht von einem Verstoß gegen die Mitwirkungsobliegenheit des Betroffenen gemäß § 10 Abs. 1 AsylG auszugehen.

Dem Betroffenen ist nicht zuzumuten, das BAMF gesondert über seine Verlegung von К. nach S. zu unterrichten. Da die Behörde die Adressänderung des Betroffenen selbst veranlasst hat, durfte der Betroffene von einem Informationsaustausch zwischen den Behörden ausgehen und musste nicht annehmen, das BAMF nochmals selbst unterrichten zu müssen. [...]